Mind the gap!

The-Beat-Generation-007Letzte Woche habe ich mit dem Laufenburger Schriftsteller Christian Haller zu Mittag gegessen. Da wir beide gesichtsblind sind, war allein die Verabredung ein Abenteuer. So hat er mich bereits einmal in der Stadtbibliothek Aarau getroffen und ich ihn an der Buchvernissage von Ursula Kahi begrüsst – oder wen immer ich mit ihm verwechselt habe. Wer immer statt meiner in der Stadtbibliothek war, wurde von Christian Haller hingegen nicht begrüsst und damit ist das Dilemma der Gesichtsblinden schon auf den Punkt gebracht: Man kann es nur falsch machen. Ob man nun Wildfremde mit einem strahlenden Lächeln begrüsst oder mit versteinerter Miene an alten Bekannten vorbeihastet, man hat keine Chance. So sitzt einem immer diese leise Angst im Nacken, etwas falsch zu machen. Als arrogante Schnepfe wahrgenommen zu werden, die es nicht nötig hat oder als morgens um zehn Uhr schon leicht angeheiterte Wahnsinnige. Aber da man Personen des öffentlichen Lebens ohnehin gern beides unterstellt, dass sie arrogant seien und ein bisschen verrückt, und vermutlich auch ständig leicht angeheitert, bleibt einem nichts anderes übrig, als das Urteil der anderen zu akzeptieren. Und mit gesenktem Kopf durch die Strassen zu gehen, als sei man tief in Gedanken versunken. Neulich hat mich trotzdem eine Frau, die vor einem Restaurant in Zürich eine Zigarette rauchte, auf offener Strasse umarmt.

„Sorry“, sagte ich. „Ich….“

„Alice!“, rief sie. „Ich bin’s,  Alice!“  Das half mir auch nicht weiter, aber die Art, wie sie Uaus ihrem Schuhschrank und von ihrem Frühstückstisch erzählte, liess auf eine gewisse Intimität schliessen. Mit Gesichtsblindheit allein ist das nicht zu erklären.

Zurück zu Christian Haller. Wir erkannten uns ohne weitere Zwischenfälle auf offener Strasse, das Lokal, in dem wir uns verabredet hatten, war voll. Wir fanden ein anderes, bestellten Pizza, redeten wie alte Freunde. Mit einem Fremden zwei Dinge gemeinsam zu haben, ist viel. Erst recht zwei so persönliche Dinge wie Gesichtsblindheit und das Schreiben. Und das ist es, was ich eigentlich erzählen wollte. Wie zwei Schriftsteller, die unterschiedlicher nicht sein, leben, essen, denken, schreiben könnten doch das Gleiche meinen. Das Gleiche verfolgen. Auch wenn es dann nicht gleich aussieht. Sich nicht gleich liest. Ein Paradox, nannte Haller es. Einzufangen, was nicht festzuhalten ist. Zu verfolgen, was sich entzieht. Den „Gap“, wie er es nennt zu akzeptieren: Diese Lücke zwischen dem, was man verfolgt und dem was man erreicht. Fay Weldon beschrieb es einmal so: Das Buch, das man ahne, das Buch das man schreiben wolle, sei wie ein grosser alter Tintenfisch auf dem Meeresgrund, man sieht seinen Umriss verschwommen, er wirbelt Sand auf, wieviele Arme hat er wirklich? Man schreibt sich an das Buch heran, man verwirft, schreibt neu, schreibt um, redigiert. Man gibt das Buch aus der Hand, es wird lektoriert, es wird korrigiert, und wenn es schliesslich erscheint, wenn man es in den Händen hält, dann hält man eine Tüte aus Zeitungspapier in den Händen, die mit frittierten Kalamaresringen gefüllt ist – irgendetwas erinnert noch an die Krake vom Anfang.

Zurück in die Pizzeria, in der letzte Woche zwei Autoren aus dem Mittelland den Betrieg aufhielten. Wir waren allein im Lokal, der Chef wollte schliessen, wir bestellten Kaffee und sprachen über unsere Anfänge, über den Literaturbetrieb, über den Umgang mit Kritik. Er nannte es ein Minenfeld, das man durchquert. Zeichnete den Weg durch dieses Minenfeld mit dem Finger auf die Tischplatte. „Nur die wenigsten kommen lebend hier an“, sagte er und klopfte auf die Tischkante. Die öffentliche Kritik, die Zurückweisung. Er erzählte mir Geschichten aus seiner schriftstellerischen Laufbahn, die ich nicht kannte oder vergessen hatte – man sieht ja immer nur gerade den, der einem in diesem Moment gegenüber sitzt, in diesem Fall den preisgekrönten, anerkannten Luchterhand Autor. „Wie überlebt man so etwas“, fragte ich, obwohl ich die Antwort aus meiner eigenen Geschichte kenne: „Schreibend.“

Fay Weldon hat übrigens auch etwas gesagt, das sowohl für das Schreiben wie für das Leben an sich gilt, was ohnehin dasselbe ist: „Nothing happens, and nothing happens, and then everything happens.“

Genau.

NPG x12952,Fay Weldon,by Fay Godwin

 

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7 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Horlacher meint

    Liebe Milena
    Ich danke dir für diesen berührenden Input!
    Schau – jetzt findet mein verlorengegangener Beitrag vom 12. August doch noch auf seinen richtigen Platz. Man darf nur nie die Hoffnung aufgeben :-)
    Hier passt er, finde ich.

    12. August 2013
    Heute ist mein erster Tag als freischaffende Schriftstellerin.
    Keine Ahnung wie man das anpackt. Wie ich das anpacken soll. Hm –
    Ich bin ein disziplinierter Mensch. Ein sehr disziplinierter Mensch. Aber irgendwie habe ich das vage Gefühl, dass Disziplin in diesem Fall nicht wirklich das Erfolgsrezept ist: Rahel von acht bis zwölf, Rahel von eins bis fünf …
    Gestern habe ich meine jüngste Cousine getroffen. Sie ist freischaffende Fotografin.
    „Wie macht man das, so freischaffend?, fragte ich sie ratlos.
    „… ich weiss nicht …“, sagte sie und kam mir nicht weniger ratlos vor als ich selber, „als ich noch nichts zu tun hatte, ging ich am Morgen jeweils zuerst joggen …“
    Nichts zu tun??
    „Naja, als ich noch keine Aufträge hatte.“
    Aufträge? Kommen denn die von selber??
    „Ja …“, sagte meine Cousine, „… irgendwie schon …“
    Aha. Das klang ja vielversprechend! Wenn man also morgens joggen ging, dann kamen die Aufträge von selber.
    Aber Joggen! Wenn ich nur schon daran denke, wird mir schlecht. Dabei konnte ich doch im Altersheim die fünf Treppen zu unserer Abteilung hochlaufen fast ohne ausser Atem zu geraten –
    Also fit gemacht hat dich das ja nicht gerade, meldet sich da eine innere Stimme. Woher kommt denn die plötzlich? Egal. Sie hat Recht: Die drei Wochen Ferien, die ich mir nach meinem letzten Arbeitstag im Altersheim gegönnt hatte, waren genaugenommen keine Ferien gewesen, sondern ein bitter nötiger Erholungsurlaub. Schlafen, lesen, ein wenig schreiben, essen. Und einmal, am Ende der zweiten Woche, ging ich nach Baden, um in der Stadtbibliothek die Bücher auszutauschen. Ausserdem wollte ich mir wieder einmal die Bildersammlung im Langmattmuseum anschauen, irgendwo Kaffee trinken und am Abend ins Kino gehen. Ein richtiger kleiner Ausflug sollte es werden. Doch als ich nach dem Museumsbesuch auf dem Theaterplatz sass, um ein Brötchen zu essen, überfiel mich beim Gedanken daran, jetzt noch ins Kino zu müssen, eine derart bodenlose Erschöpfung, dass ich die Idee aufgab und nach Hause fuhr. Dabei gehe ich doch so gern ins Kino!
    War ja auch nicht gerade erbauend, dieser Museumsbesuch, bemerkt die innere Stimme. (Ob ich mich wohl an die gewöhnen muss?? Nun ja, solange sie Recht hat …)
    Es stimmt. Der Museumsbesuch war alles andere als erbauend gewesen. Ich liebe die Bilder, die in der Langmattvilla ausgestellt sind, vor allem die kleinen Boudins im Vorzimmer der Galerie. Der freundliche Mann am Empfang nahm mir meinen Rucksack ab und drückte mir, nachdem ich den Eintritt bezahlt hatte, einen Prospekt in die Hand.
    „In ihrer Ausstellung „Die fünfte Jahreszeit“ umkreist Ursula Palla (geb. 1961) anhand von zwölf für die Villa Langmatt geschaffenen Videos und Installationen Fragen zum Verhältnis von Natur und Technik.“
    Spannend, dachte ich, und betrat voller Vorfreude das erste Zimmer. Ein fürchterlicher Knall liess mich zusammenfahren. Während er in einem langanhaltenden Tosen ausklang, sah ich mich verwirrt um. Auf einem an die Wand projizierten Bild sanken Blütenblätter langsam in Richtung des unteren Bildrands, wo sie einen Haufen bildeten. Dann wurde die projizierte Fläche dunkel. Nach einer Weile verschwand die dunkle Fläche, und der Film begann von neuem: Eine Vase mit Blumen, deren Blüten und Blätter von einem feinen Luftzug bewegt wurden, stand vor einem blauen Hintergrund. Ich betrachtete sie eine Weile, und als nichts Weiteres zu geschehen schien, wandte ich mich schulterzuckend ab, um mir die anderen Kunstwerke im Zimmer anzuschauen. Da knallte es wieder. Ich fuhr herum und sah gerade noch, wie der Blumenstrauss auf dem Bild in die Luft flog. Aha, dachte ich, eine Explosion. Die gehörte wohl zum Film, und ich hatte sie verpasst, weil ich mich zu rasch abgewandt hatte. Diesmal würde ich lange genug warten! Wieder fielen die Blütenblätter nach unten und bildeten einen Haufen. Wieder wurde es dunkel. Wieder begann der Film von neuem. Wieder stand die Vase voller Blumen vor dem blauen Hintergrund. Wieder bewegten sich Blüten und Blätter in einem feinen Luftzug. Ich wartete. Nichts geschah. Ich wurde erst ungeduldig, dann ärgerlich.
    Was soll das?, dachte ich und wunderte mich gleichzeitig ein wenig: Warum ärgerte ich mich? Nichts verpflichtete mich hier stehenzubleiben! Kopfschüttelnd ging ich zur Tür. Es knallte. Mein Herz hämmerte. Ich schaute mich nicht um. Im Foyer las ich die zur Installation gehörende Beschreibung im Prospekt:
    „FLOWERS I zeigt einen Blumenstrauss in einer Vase vor blauem Hintergrund. Ein Luftzug streicht sanft durch das sommerliche Stillleben. Sobald Besucherinnen und Besucher vor der Projektion verweilen, lösen sie (via Sensoren) die Bilder der explodierenden Vase aus. Die Explosion des Blumenstrausses in slow-motion zeigt die Umkehrung der Schönheit zur Ästhetik der Zerstörung und ein Auflösen der Farbflächen.“
    Aha, Sensoren, dachte ich. Na, wartet! Ich schlich mich ins Zimmer zurück, wo sich der Blumenstrauss inzwischen wieder aufgebaut hatte und leise vor sich hinfächelte. Es knallte. Ich seufzte und nutzte die Zeit, um, während der Film fertiglief, das Zimmer zu durchqueren, damit ich versuchen konnte, die Sensoren von der Seite her auszutricksen. Es knallte. Ich wartete. Schlich wie ein Indianer. Es knallte. Ich wartete. Ich kroch. Es knallte. Ich wartete. Ich … hatte keine Chance …

    Um was geht es hier eigentlich? Ich habe gemeint, um mein Debüt als freischaffende Schriftstellerin?!
    Inzwischen ist halb fünf, schon beinahe Feierabend. Was habe ich denn nun wie angepackt? Ich weiss es nicht. Ich glaube nichts. Am Morgen habe ich zuerst die Vorhänge geöffnet. Das habe ich im Altersheim gelernt: Wenn man am Morgen zu einem Bewohner ins Zimmer kommt, muss man immer zuerst die Vorhänge öffnen. Und guten Tag sagen, natürlich.

    —–

    Auftrag habe ich immer noch keinen und Erfolg auch nicht.
    Aber das Novemberschreiben macht mir viel Freude :-)
    lG Regula

  2. Hans Alfred Löffler meint

    Vor einigen Tagen und immer noch: „Es war dritte Tag mit Nordwind. Der Fluss, die Uferbäume vor den Fenstern steckten wie schon gestern und vorgestern n einer Hülle aus Nebel: Schwaden, in denen schattenhaft Zweige und Äste auftauchten und verschwanden. Doch nun ein Brief, blendend in Licht der Tischleuchte, ein Loch in die herbstliche Trübnis zu stoßen: «We are honoured to invite you» – stand unter den Lettern eines Institutes, das auf schneeigem Weiß den «Dear Sir» bat, für die Präsentation seiner fotografischen Arbeiten in eine ferne, nach meiner Kenntnis warmen Gegend zu kommen.“ (Abschrift aus dem Buch „Der seltsame Fremde“ Roman von Christian Haller)

  3. Jörg Eichenberger meint

    Kann – oder sollte man den GAP nicht besser und einfach negieren – was man erreicht, erschafft, erphantasiert, erträumt, erschreibt – ist doch immer 100%! Hat Spass gemacht, deinen Text zu lesen!

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