Die längste Nacht.

arts-graphics-2008_1185901aEs war nur eine Stunde. Eine Stunde länger. Aber genau diese Stunde habe ich gebraucht. Danke. Gestern war ich an der Hörspielnacht im Radiostudio Zürich, der ersten Koproduktion von Radio SRF 1 und 2. Es war sehr interessant. Wir mussten schon um 18 Uhr dort sein, um in der Kantine Salat und Käsebrötchen zu essen und Apfelsaft zu trinken, was irgendwie nicht recht zum Thema „Kuss und Biss“ passen wollte… Ursprünglich war der Abend im Rössli Stäfa geplant, einer traditionsreichen Kulturbeiz, die bei den Beteiligten allerhand Erinnerungen aufkommen liess, aber dort fand ein Oktoberfest statt (noch eins?). In der Kantine des Radiostudio kam nicht ganz dieselbe Stimmung auf. Um acht verschoben wir uns in das grosse Studio, das auf seine Art auch sehr schön und traditionsreich ist. Auf der Bühne sah man allerhand seltsame Gegenstände, nackte Duvets und Kissen, eine Giesskanne, einen Tisch voller Tassen und Gläser, eine Tür, die ins nichts führte, ein stoffbespanntes Holzrad. Ein mit Kopfhörern bestücktes Sofa, vier Notenständer und vier Stühle. Aber kein Mensch, niemand. Eine dreiviertel Stunde lang hörten wir so auf unbequemen Stühlen sitzend, Radio. Erst die Nachrichten, dann die Verkehrsmeldungen. Zur Zeit liegen keine Störungen vor. Die Moderatoren begrüssten uns über Lautsprecher aus Zürich und Basel. Dann kamen Hörspielszenen. Es war sehr seltsam aber auch sehr lustig und aufschlussreich – wir fühlten uns beobachtet, wir schauten auf die Bühne, als würden die Hörszenen dort gespielt, wir wagten nicht, miteinaner zu reden oder uns umzudrehen, um zu sehen, ob die gelegentlichen Lacher vom Band kamen oder aus dem Publikum. Nach einer kurzen Pause kam dann der Moderator und bat uns zu klatschen. Vier Schauspieler traten hinter die Notenständer und Hörspielregisseurin Isabelle Schaerer setzte die Windmaschine in Gang. Drei kurze Hörspiele wurden jetzt wirklich direkt vor unseren Augen live inszeniert. Die Schauspieler küssten leidenschaftlich ihre eigenen Unterarme, einer stürzte sich mehrmals filmreif zu Boden, sprang leichtfüssig wieder auf und beendete seinen Satz, während die Regisseurin Schritte im Treppenhaus imitierte, das Rauschen einer Dusche, das Klirren vom Frühstücksgeschirr – und einmal sogar Parfüm in die Luft verspritzte. Dann sollten Stefan Zweifel und ich uns über „Erotik in der Literatur“ unterhalten, was gründlich schief ging, dafür machten wir eine kleine Reise in die Vergangenheit. Zweifel gehörte zu einer Gruppe von Gymnasiasten, die sich Mitte der achtziger Jahre gern im Untergeschoss der Buchhandlung am Kunsthaus aufhielten, die meinem ersten Mann gehörte, René Moser, von dem ich auch meinen Namen habe. Im Untergeschoss dieser Buchhandlung war die „erotische“ Literatur untergebracht, gleich neben den Fotobänden mit den nackten Frauen und seltenen Männern. (Das erinnert mich an ein Missverständnis mit einem Fotografen, der mir erklärte, dass seine Mutter es nur schwer aushalte, dass er „Nudes“ fotografiere, und ich nicht verstand, wo das Problem war, weil ich immer „News“ hörte…) Anyway, so war der Laden in der Zehnuhrpause immer voll, über Mittag und nach Schulschluss ebenfalls. Zweifel behauptet, sich in dem Laden ruiniert zu haben, jedenfalls hat Moser ihm seinen ersten Band von de Sade in Frankreich besorgt, was damals illegal war, und der Rest ist Geschichte. Das hat mich mehr interessiert als das Thema Erotik, das ohnehin lieber gelebt als diskutiert wird. Das Gespräch hat mich zu meinen schriftstellerischen Wurzeln zurückgeführt. René und ich haben „Sans Blague, Magazin für Schund und Sünde“ gegründet, wo Zweifel als sechzehnjähriger seine ersten übersetzten Textstellen veröffentlichte, die ich als zwanzigjährige selbsternannte Chefredaktorin in den Computer tippte und mich mit damals schon mütterlicher Besorgnis fragte: Tut das dem Jungen gut? Ich erinnerte mich, wie wir unsere dick geschminkten Kussmünder auf hunderte von Titelseiten pressten, wie wir den Foto- und den Fortsetzungsroman neu zu erfinden glaubten, wie wir ungeniert umsetzten, was immer uns in den Sinn kam. Ob es auch Sinn machte, fragten wir uns nicht. Nie. Aber vor allem erinnerte ich mich wieder daran, wieviel Spass wir dabei hatten. Wie leicht alles war. So soll es sein, dachte ich. Genau so – und schlich durch die Hintertür davon.

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6 Kommentare

Kommentare

  1. Lise meint

    Ich war nur am Radio dabei, aber tödlich gelangweilt von der Zeremonie, schaltete nicht um, weil ich immer dachte, jetzt kommts dann. Nix da. Schliesslich starb auch die Hoffnung und weil ich mich nun mal auf eine Hörspielnacht gefreut hatte, zogen wir uns die ganze Nacht abwechslungsweise Maloney, Schreckmümpfeli, den Polizist Wäckerli u.a. nicht einlogg- oder gar kostenpflichitgen Hörspiele rein.
    So geht das.
    Mich stört das Herumspielen mit Toneffekten, ich mag keine Echosprache, keine Hintergrundtöne, Geräusch-Einblendungen, die nur dem rücksichtlosen Spieltrieb der Macher dienen, da ist keine Spannung, keine Freude beim Zuhören, öde, öde, öde. Früher war man froh, einmal pro Woche ein (gutes) Hörspiel zu bekommen – aber wenn ich im Leben draussen täglich -zig Events besuchen kann, an Radio und TV aus -zig Programmen eins aussuchen kann, das mir gefällt, bin ich doch nicht mehr auf eine (zudem langweilige) Hörspielerei angewiesen. Künstler sein, Kunst produzieren, egal welche, ist darauf angewiesen, beachtet zu werden, heute mehr denn je. Nackte Schauspieler, Koitus, ein lebendes Huhn, das dann geköpft wird, Nazis auf der Bühne und anderer für die Spieler, aber nicht fürs Publikum lustvoller Schabernack lösen nur noch ein Gähnen oder einfach Abwehr aus. Schon gar, wenn, wie am Radio, nicht mal was zu sehen ist und kein Kopfkino stattfinden kann wie in dieser missratenen Hörspielnacht.

  2. Hans Alfred Löffler meint

    Hörspiele? Das gibt es noch! Sind doch Dialoge mit oder ohne Hintergrundgeräusche. Rauscht noch in meinem Kopf, so:
    «Elma! So redest du nicht in der Yogastunde, auch nicht vor und nach der Yogastunde.»
    «Also wann? Nach der Yogastunde ist vor der Yogastunde.»
    «Also nie – du hast es erfasst! Und jetzt entschuldige dich bei Lana.»
    (Seite 234 aus dem Buch „Das wahre Leben“ von Milena Moser … Nevada, die Yogalehrerin spricht mit ihrem „Bodyguard“ Elma) und:
    Elma zog ihre Hände zurück und steckte sie in die Hosentaschen. «Ja, schon gut», murmelte sie. «Tut mir leid, Lana, ich sag das halt so.» Und auf Seite 147 kommt Elma schon früher zum Wort; im Dialog mit Nevada:
    «Dante?», fragte Elma. «Sie meinen Glatzen-Dante? In den haben Sie sich verliebt?»
    «Er hat Krebs», murmelte Nevada. «Darum die Glatze.»
    «Weiß ich. Weiß doch jeder hier. Der war mal in der Zeitung. Der ist berühmt. Sie, ist der nicht zu jung für Sie?»
    (Gute Frage von Elma, nicht? Nein, nicht jetzt … ! Die Antwort von Nevada kann nur im Kontext verstanden werden … wie Hörspiele, Filme und Bücher auch.

  3. Regula Horlacher meint

    @Milena: Am Sonntag habe ich Angelika Overaths Senter Tagebuch „Alle Farben des Schnees“ gelesen.
    „Ich glaube immer noch nicht, dass mir an Weihnachten nichts geschehen kann. Weihnachten, das war eine weinende Mutter, eine von der selbstauferlegten Weihnachtsperfektion (Grossputz, Gebäck, Gans, Garderobe) überforderte und müde Mutter, die regelmässig zusammenbrach. Weihnachten hiess alarmbereit sein. Abfangen, was abzufangen war. Ich, ein grössenwahnsinniges Kind. Und dann schenkte der Vater die falsche Kaffeemaschine. Und wieder war nichts mehr zu retten.“

    Meine Mutter weinte an Weihnachten nie, und mein Vater schenkte immer das Richtige. Kaffeemaschinen kauften sie gemeinsam.
    Trotzdem war ich – bin ich – ein grössenwahnsinniges Kind. Grössenwahn kann man nicht einfach ablegen wie einen Mantel, wenn man von der Kälte in die Wärme kommt. Weil man gar nicht weiss, dass man grössenwahnsinnig ist.
    Also das heisst, jetzt weiss ich es.
    Aber bis vor kurzem glaubte ich, Grössenwahn sei das Übliche. Alle seien grössenwahnsinnig. Ich wunderte mich höchstens, dass es so zäh geht mit dem Vorwärtskommen in meinem Leben. Dass es sich manchmal anfühlt, als ginge ich in schlecht passenden Gummistiefeln durch knietiefen Schlick.
    Ich wunderte mich … bis mir jemand an die Gurgel fuhr. Jemand, von der ich geglaubt hatte, sie sei eine Freundin. Es hat mich fast getötet. Zum Glück habe ich ein starkes Herz.

    Ich habe dann etwas Verwerfliches getan: Ich habe meine Tochter um Hilfe gebeten. Zwei Stunden lang habe ich ihr mein Herz ausgeschüttet. Dabei hat sie doch gar keine Zeit, sie muss studieren und hat es streng! Aber sie hat nichts davon gesagt. Sie hat mir zugehört, ich habe mich bei ihr bedankt und dann ist sie wieder gegangen. Zurück zu ihrem Studium.

    Zurück zu meiner Freundin.
    Sie hat mich hereingelegt. Sie hat mich an meinem wunden Punkt getroffen: Kinder. Einem Kind kann ich nicht widerstehen. Wenn ein Kind in Not gerät, schwindet augenblicklich alle meine Vorsicht. Ich schiesse blind auf mein Ziel los – und darüber hinaus.
    Meine Freundin hat mir das Kind in Not vorgespielt, und ich habe sie wie ein Kind behandelt. Nur, dass ich es noch nie fertiggebracht habe, ein Kind zu verwöhnen. Ich war streng mit ihr. Da wurde sie mit einem Schlag erwachsen. „Behandle mich nicht wie ein kleines Kind!“, schoss sie ihren Pfeil durchs Internet. Er traf mich mitten ins Herz. Natürlich nur bildlich, aber trotzdem –
    Und so ging ich wieder einmal durch eine Hintertür davon. Wie der Mann in „Das Leben der anderen“. Aber diesmal weinte ich ein bisschen dabei. Ob mehr um sie oder um mich selbst, weiss ich nicht genau. Ich dachte nur: Schade, es ist so schade –

    C‘ est la vie.

    Dir alles Liebe
    Regula

  4. Esther Wilson meint

    Liebe Milena, lebendig erzählt, wundervoll, die Quintessenz: einfach Spass haben. Leichter gesagt, als getan. Das Lesen Deiner Geschichte jedenfalls machte Spass, es macht Spass, heute frei zu haben. Ein Sonn-Tag. Duftkerzentag. Schlemmertag. Nichtstuntag.. Viele spassige Momente, Dir! gewünscht von Esther aus Luzern

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