Vom Schreiben und Geschrieben haben.

jeanette-winterson-memoir-007Oft höre ich Stimmen. Mir ist klar, dass ich dadurch in die Kategorie „verrückt“ falle, aber das kümmert mich nicht allzu sehr. Wenn man wie ich glaubt, dass der Kopf sich selbst heilen will und dass die Psyche Kohärenz und nicht Auflösung sucht, dann liegt sie Schlussfolgerung nahe, dass der Kopf das Nötige hervorbringen wird, um an dieser Kohärenz zu arbeiten.  Das schreibt Jeanette Winterson in „Warum glücklich statt einfach nur normal?“

Das Buch handelt von einer vorsichtig ausgedrückt verwirrenden Kindheit. Von der fanatisch religiösen Adoptivmutter, die sich eine ganz eigene Realität erschaffen hatte, die sie Mann und Kind mit gnadenloser Härte aufzwang. Wer sich nicht fügte, wurde bestraft. Ausgeschlossen, eingesperrt, geschlagen, exorziert. Was Frau Winterson beschreibt, ist herzzerreissend. Wie hat sie diese Einsamkeit, dieses Ausgeliefertsein an eine grausame Macht überlebt?  Warum ist sie nicht druchgedreht? Beziehungsweise, warum konnte sie sich immer wieder retten, auch aus Anflügen von Wahnsinn und Verzweiflung?

Weil sie schreibt. Ganz einfach. Das Schreiben ist eine äusserst wirksame Methode, vielleicht die einzige, die eigene Realität festzuhalten, ihr einen Platz einzuräumen im Konstrukt der anderen. Denn aus diesem Konstrukt gibt es für das Kind kein Entrinnen. Ausser auf dem Papier. Diese Art von Schreibenmüssen, Schreiben als Massnahme, als Überlebensstrategie kennen viele Schriftsteller. Dann gibt es andere, die behaupten, es sei alles eine Frage des Handwerks und der Berechenbarkeit der Leserwünsche. Sie sind fleissig und erfolgreich und es ist nichts gegen sie zu sagen. Ich möchte nur nicht mit ihnen am Tisch sitzen. Und ihre Bücher lese ich auch nicht gerne. Das hat aber nichts zu bedeuten. Nicht das Geringste. Das ist nur meine ganz persönliche Art, das Leben zu leben.

Einen solchen Kollegen habe ich kürzlich im Zug getroffen und ihm von meiner Reise erzählt. Mein ursprüngliches Konzept habe ich aus dem Fenster geworfen. Es löste sich noch im Flug in Luft auf. Mein Verleger zuckte nur mit den Schultern. Ich habe die „brilliante Idee“ zwar verkauft, aber nur verbal. Nichts unterschrieben, nichts ausbezahlt bekommen. Ich bin also vollkommen frei. Das ist ein grosser Luxus. Der grösste überhaupt. Eine Zeitlang habe ich Reisereportagen geschrieben, was ich mir sehr aufregend vorgestellt hatte. Die Realität sah aber so aus, dass man sich von Fluggesellschaften und Hotels einladen lassen und diese dann lobend erwähnen musste. Einmal wollte ich über die junge Literaturszene in New York berichten, ich besuchte Schriftstellerkollektive und Talentschmiede-Lesungen, redete mit Schreibstudenten und Nachwuchstalenten. Das alles fiel den vorgeschriebenen Zeilen über die Fluggesellschaft und die diversen Hotels zum Opfer. Das war keine Reisereportage, das war eine PR-Geschichte. Kürzlich habe ich gelesen, dass immer mehr Journalisten „die Fronten“,  also zur PR, zum Marketing wechseln. Weil sie da mehr verdienen – vielleicht auch, weil es dann wenigstens klar deklariert wird, wofür sie bezahlt werden?

Anyway. Der Kollege im Zug ging automatisch davon aus, dass ich in meiner Funktion als Schriftstellerin nach Amerika reisen würde. Am deutschen Haus der New York University lesen, in Cambridge einen Vortrag halten würde. So wie er selber neulich. Das sind die schönen, seltenen Momente der Würdigung. So etwas würde mir nie passieren, dachte ich früher immer, ich gehöre ja nicht wirklich dazu, zur „Literaturszene Schweiz“. Was immer das ist. Und wie um mir diese Annahme zu bestätigen und mich gleichzeitig darüber hinwegzutrösten, erreichte mich diese prestigiöse Einladung vor fast zehn Jahren – mit „Schlampenyoga“. Einem autobiographischen Essay über meine Suche nach Erlösung auf einer Odysse durch sämtliche kalifornischen Yogastudios. Eine Auseinandersetzung mit der yogischen Philosophie auch, mit viel Fachwissen durchzogen. Das unliterarischste all meiner „unliterarischen“ Werke also. Und ausgerechnet dieses Buch verschaffte mir die Einladung an die NYU und nach Cambridge und sogar an eine Konferenz für nordamerikanische Deutschprofessoren. Dort diskutierten wir leidenschaftlich die Herkunft des Begriffs „Schlampe“ und sortierten bunte M&Ms als „Mosers Motive“. Es war grossartig. Es war nicht wichtig.

Jedenfalls nicht für mich. Das Schreiben ist nicht Weg zum Ziel, zum Geschrieben haben. Das Schreiben ist das Ziel. Das Veröffentlichen, die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Geschriebenen ist nicht die Belohnung für das Schreiben, sondern der Preis, den ich dafür zahle. Mich beschäftigt nicht, wie das von mir Geschriebene wahrgenommen wird, sondern wie ich schreibe. Das, und die im Augenblick viel dringendere Frage, ob ein neues Reisekonzept nicht nach neuen Stiefeln verlangt?12718-DEFAULT-l

 

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Leser-Interaktionen

7 Kommentare

Kommentare

  1. Hans Alfred Löffler meint

    am 1. Mai 2013 ca. 02:00 Uhr las einen Satz von dem ich meinte, diesen von Milena Moser (oder auch von den Kommentarinen zum Blog schon einmal gelesen zu haben). Also, raus aus „der Kiste“ und suchen – ohne Erfolg :-( es ging um folgendes:
    Jeanette Winterson in ihrem Buch «Warum glücklich statt einfach nur normal? eSeite-49:
    Ich brauchte eine ganze Weile, bis mir klar wurde, dass es zwei Arten von Geschichten gibt; die einen schreibt man, von den anderen wird man geschrieben. …
    Jeanette Winterson in her book «Why Be Happy When You Could Be Normal?» ePage-45:
    It took me a long time to realise that there are two kinds of writing; the one you write and the one that writes you. …
    PS1. Das mag mit dem neuen – noch unveröffentlichtem Buch – von Milena Moser nichts zu tun haben. Und doch erinnere mich fast jede Seite in Jeanette Winterson’s Buch an Geschichten die uns Milena als Buch und oder Blog erzählte und erzählen wird – wunderbar!
    PS2: Die Deutsch- und English-Ediion des Buches sind von KINDLE aber auch als EPUB (Digital Edition) Ausgabe erhältlich.

    • Milena Moser meint

      @ Hans: du erinnerst richtig, ich habe dieses Zitat auf meine Facebookseite gestellt – eigentlich könnte ich das ganze Buch zitieren! Habe schon lange nicht mehr so oft „genau!“, „so ist es!“ gerufen beim Lesen!

    • Hans Alfred Löffler meint

      Inzwischen wurde es Juni, seit dem 6. Mai sind keine – nicht mal zufällige – Blogs von Dir eingetroffen, aber ich war tätig als Leser und hatte zu Deinem “so ist es!” zitiert:
      WÖRTER aus dem Buch: Warum glücklich statt einfach nur normal?
      Jeanette Winterson (Autor)
      Monika Schmalz (Übersetzer)
      Auswahl und Abschrift von Hans Alfred Löffler

      (Seite 14) :
      Beim Schreiben stellen wir das Schweigen genau so heraus wie die Geschichte selbst. Wörter sind das, womit man dem Schweigen Ausdruck verleiht.

      Wir können das Buch aufschlagen. Jemand ist schon an unserer Stelle dort gewesen und tief in die Wörter getaucht.

      Ich brauche Wörter, denn unglückliche Familien sind Verschwörungen des Schweigens.

      (Seite 28) :
      Schon früh ahnte ich, dass die Wirkung eines Textes nichts Zeitgebundenes ist. Die Wörter leisten weiter Ihre Arbeit.

      (Seite 47) :
      Ich konnte gut lesen – das muss man, wenn man mit der Bibel anfängt … aber ich liebte die Wörter von Anfang an.

      (Seite 84) :
      Nur in einer Sache war ich gut: Wörter. Ich hatte mehr gelesen, viel mehr als jeder andere, und so wie die Jungen wissen, wie ein Motor funktioniert, wusste ich, wie Wörter funktionieren.

      (Seite 86) :
      Der Text kann Trost spenden: LASSET NICHT ZU, DASS EURE HERZEN SCHWER UND VOLLER ANGST SIND. Oder er konnte gruselig sein: DIE SÜNDEN DER VÄTER WERDEN AUF DIE KINDER KOMMEN.
      Aber ob fröhlich oder deprimierend, das alles liess sich lesen, und lesen war das, was ich wollte. Ich ließ mich füttern und kleiden mit Wörtern, und die Wörter wurden zu Hinweisen.

      und auch WORTE aus dem Buch: Warum glücklich statt einfach nur normal?

      (Seite 135) :
      Ich fand keine Worte, keine direkten Worte, für meinen eigenen Zustand, aber hin und wieder konnte ich schreiben, und das geschah explosionsartig, so dass mir eine Zeitlang vor Augen geführt wurde, dass es noch immer eine Welt gab – eine richtige, eine prächtige Welt. Ich konnte meine eigene Flamme sein, um mir zu leuchten.

      (Seite 153) :
      Ich ging in die Küche, nahm einen Teller und warf ihn gegen die Wand – »Formular … Antragsteller … ausgefüllt … retourniert …«. Hier geht’s doch nicht um eine Banküberweisung, du Arschloch.

      (Seite 155) :
      Zu den Auffälligkeiten dieser rückwirkenden Adoptionserfahrung, dieser entfremdenden Rechtshändel gehört, dass ich über meine eigenen Worte stolpere, zögere, immer langsamer werde und schließlich verstumme.

      Liebe Grüsse, nachhaltige sogar; von Hans

  2. Karin Braun meint

    Liebe Milena, ich höre seit ich 8 Jahre alt bin Stimmen (akustische Halluzinationen heißt das wohl) und zur gleichen Zeit begann ich zu schreiben. Natürlich npch sehr rudimentär, aber ich schrieb und schreibe immer noch. Nun bald ein halbes Jahrhundert. Der Zweck war nie, Geschrieben zu haben, sondern zu schreiben.
    Daher auch von mir: Ein Beitrag der mir aus der Seele spricht.
    Was die Stiefel betrifft: Definitiv ja!
    Alles Liebe Karin

  3. Corinne meint

    Liebe Milena
    Mit deinem letzten Absatz hat du mir ganz und gar aus dem Herzen gesprochen.
    „Das Schreiben ist nicht Weg zum Ziel, zum Geschrieben haben. Das Schreiben ist das Ziel. Das Veröffentlichen, die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Geschriebenen ist nicht die Belohnung für das Schreiben, sondern der Preis, den ich dafür zahle.“
    Mein Buch steht noch Lichtjahre vor der Vollendung. Aber irgend wann wird es fertig sein. Und dann? Soll ich es einem Verlag anbieten? Und was ist, wenn es gedruckt wird? Dann gehört es nicht mehr nur mir. Dann kann jemand anderes darüber verfügen, und ein Stück weit auch über mich. Und was ist, wenn mir das dann nicht passt?
    Wer zahlt, befielt, sagt man. Die Gedanken sind frei, sagt man auch. Darum, Milena, behalte deine Ideen und Gedanken so lange wie möglich für dich, denn wenn du sie verkauft hast, gehören sie nicht mehr nur dir, jemand anderes kann mitbestimmen und du hast ein kleines bisschen Freiheit weniger.

    @Regula
    Nein, ich habe das Bild danach nie gemacht. Und das ist mir eine Lehre, nichts aufzuschieben in der Meinung, später sei noch früh genug. Weil es sein kann, dass später nicht mehr die richtige Zeit ist, auch wenn sie dann im Überfluss vorhanden wäre.

    • Regula Horlacher meint

      Ja – das glaube ich auch, dass man seine Zeit nutzen sollte.
      Liebe Grüsse
      Regula

  4. Esther Wilson meint

    Liebe Milena, unbe-unbedingt neue Stiefel! Vielleicht noch ein neuer Hut dazu. Damit Du gut behutet bist. Und mein Neid im positiven Sinn. Warum mache ich nicht so eine Reise? Braucht Mut!
    Also, viel Spass, Mut und gute Reise, auf Deine Reiseberichte freue ich mich jedenfalls schon – und werde halt in Gedanken mitreisen.
    Viele Grüsse und beste Wünsche
    Esther

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