Nach dem Buch ist vor dem Buch.

jack-kerouac-2-540x304Es gibt nichts mehr zu tun. Das Buch ist geschrieben, lektoriert, korrigiert, gesetzt und wird jetzt als Vorabexemplar gedruckt. In zwei Wochen sollte es da sei. In drei Wochen reise ich ab.

Das hat mit der neuen brillianten Idee zu tun, oder eher mit einer alten brillianten Idee. Vor vier oder fünf Jahren begann ich über den klassischen amerikanischen Roadtrip nachzudenken. Thelma and Louise and Jack Kerouac. Easy Rider. Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten. Blue Highways. Etc etc. Der Roadtrip ist ein Mythos. Ein Symbol der Freiheit. Freiheit, nach der ich mich sehnte. Damals. Die Vorstellung, einfach loszufahren, ohne Plan, ohne zu wissen, wo hin und wo durch, reizte mich. Nur, wann? Und wie? Als wir in Amerika lebten, führte ich ein typisches Soccer-Mom-Leben. Der Rhythmus der Schule, der Schulveranstaltungen, Theaterproben, Feiertage und Basketballspiele bestimmten mein Leben. Und es war ein schönes Leben. Es hat mich vor der Korrespondentenfalle bewahrt, dem Leben in einem fremden Land nur zuzuschauen, mit spitzen Finger draufzuzeigen und es aus sicherer Distanz zu analysieren. Ich habe es gelebt. Doch dass ich in acht Jahren so wenig von diesem grossen Land gesehen hatte, wurmte mich.

Das Fenster der Freiheit, dachte ich damals, öffnet sich für eine Frau nicht in der Jugend, nicht zwischen High School und College, zwischen Studium und Beruf. Sondern erst im mittleren Alter, wenn die Kinder „draussen“ und die Eltern noch nicht „drinnen“ sind. Da liegen ein paar Jahre, in den es nur einen selber geht. Me, me, me!

Und so entstand der Plan, meinen fünfzigsten Geburtstag auf der Strasse zu feiern. Ich würde nach New York fliegen, ein Auto mieten und losfahren. Ganz allein, ohne zu wissen, wo hin und wo durch. Ohne Rücksicht auf andere: Will ich anhalten oder weiterfahren? Rechts ab biegen oder links? Aussteigen, etwas essen, habe ich überhaupt Hunger und meine ich einfach, um 12.30 müsse zu Mittag gegessen werden, weil ich es 25 Jahre lang so gemacht habe? Wusste ich nach 25 Jahren überhaupt noch, wann ich Hunger hatte, wo ich anhalten, abbiegen, aussteigen wollte? Im Alltag konnte ich diese innere Stimme, die mir sagte, was ich wollte, nicht mehr hören. Sie hatte auch keine Funktion, sie hätte diesen Alltag nur gestört. Unterwegs, so stellte ich mir vor, würde meine innere Stimme wieder erwachen, gezwungenermassen. Ich wäre schliesslich ganz auf sie gestellt. Und so wären die grössten Abenteuer, die ich auf dieser Reise erlebte, innerliche. Irgendwann würde ich in San Francisco ankommen, dachte ich, und dort meinen Geburtstag feiern. Schmutzig, müde und frei. Fünfzig.

Brilliante Idee. Das wird ein Buch, sagte der Verleger. Schick uns einen Artikel, die Zeitschrift. Und jetzt ist es so weit. Am 7. Mai fliege ich nach New York. Eine Nacht schlafe ich bei einer Freundin. Am nächsten Morgen werde ich ein Auto mieten. Oder in einen Greyhound-Bus steigen.Sonst weiss ich noch nichts – ausser dass ich die Reise anfang Juni unterbreche und für zwei Auftritte in die Schweiz zurückfliege. Aber das ist nicht das Problem.

Es ist viel schlimmer: mein Motor ist tot. Jedes Mal, wenn ich von dieser Idee erzähle – und es ist die erste, die ich je hatte, die überall auf einstimmige Begeisterung stösst – jedes Mal klingt sie in meinen eigenen Ohren mehr wie ein einstudierter Text. Die Zeit hat mich eingeholt. In den Jahren, die seit diesem allerersten Gedankenfunken vergangen sind, habe ich mich von vielen Zwängen befreit. Ich habe gelernt, auf mich zu hören, ich habe mein Leben so umgekrempelt, so dass ich wieder aufrecht in ihm stehen kann. Die brilliante Idee hat sich bereits verwirllicht – und sich so selber ausgelöscht. Ich brauche diese Reise nicht mehr. Ich kann sie natürlich trotzdem machen. Genau so, wie ich sie mir ausgedacht habe. Ich kann das Buch schreiben, den Artikel verkaufen.

Doch da ist noch etwas anderes. Ich suche heute etwas anderes. Nur was? Und – finde ich es auf der Strasse?

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13 Kommentare

Kommentare

  1. Claudine meint

    Hallo Milena
    ich bin vor 2 Jahren mit meiner 19 jährigen Tochter ( Mann und 2 Söhne blieben zu Hause) 3 Wochen lang durch Südafrika gereist. Geplant waren wenige Fixpunkte, der Rest war treiben lassen.
    Mittagessen gabs manchmal erst um 16.30, manchmal sassen wir stundenlang lesend an Orten mit herrlicher Aussicht und leckerer Küche im Rücken.
    Ich wünsche dir ebensolche tolle Wochen aus denen du Ideen und Kraft für die Zukunft!
    Claudine

  2. Corinne meint

    Liebe Milena
    Ein bisschen beneide ich dich, dass du das kannst. Alles hinter dir lassen, die Türe schliessen, und einfach gehen.
    Bei vielen Entscheidungen stehen wir uns wohl selber im Weg. Haben tausend Ausreden, wieso gerade jetzt nicht, oder das nicht, oder mit dem oder der nicht. Der Alltag nimmt einen sehr grossen Teil des eigenen Lebens ein, und den beiseite zu schieben, um Platz zu machen, für etwas Neues, ist unbequem. Ich weiss nicht, ob ich das auch möchte, trotzdem beneide ich dich. Vielleicht, weil du eben weisst, dass du es willst.
    Ich wünsche dir auf jeden Fall die Erfüllung deiner Vorstellungen. Und zwar deiner jetzigen. Die, die du früher hattest, haben sich ja schon erfüllt.

    Früher hatte ich manchmal ein Bild im Kopf, dass ich machen wollte. Ich habe es dann so lange mit mir rum getragen, bis ich es nicht mehr ausführen musste. Es hatte sich erledigt, aber oft hat es mich dann gereut, dass ich nicht mehr das Bedürfnis hatte, es noch ausserhalb meines Kopfes entstehen zu lassen.
    Schön, machst du deine Reise, auch wenn du gedacht hast, dass du sie nicht mehr machen musst.
    Ich hoffe, dir hier ab und zu wieder zu begegnen. Alles Gute ;)

    • Regula Horlacher meint

      Wie schade! – Hast du denn wirklich gar keine Lust mehr, dieses Bildprojekt doch noch zu realisieren?

  3. Rolf Polier meint

    Das verstehe ich nicht. Die Idee ist ja in Ihren Augen tot, weil Sie sie a) bereits als Buchidee gepitcht haben, und weil Sie nun wissen, dass Ihr Verleger oder wer auch immer eine Art „Eat, Pray, Love“-Story von Ihnen erwarten. Mit einer Prise „Zen oder die Kunst ein Motorrad zu warten“. Das wäre noch besser. Sie ist in Ihren Augen ausserdem tot, weil Sie sich b) gerade wieder hochgerappelt haben und gelernt haben, auf sich zu hören, was man so oder so interpretieren kann. Ich persönlich finde die Idee genial. Wird aber wahrscheinlich nur klappen, wenn Sie bereit sind, sich im Rahmen dieses Trips auf möglichst viele Abwege zu begeben, denke ich.

    • Milena Moser meint

      Danke Euch allen für euer Mitdenken, -fühlen, -reisen! Natürlich werde ich die Reise trotzdem antreten. Aber die Grundhaltung oder die Grundfrage – THE QUEST, wie Oliver das im letzten Kurs genannt hat – wird eine andere sein. Welche, das weiss ich noch nicht. Aber ich werde Euch auf dem Laufenden halten!

  4. Isabel meint

    Liebe Milena
    „…die brilliante Idee hat sich bereits verwirllicht“, schreibst du – ein herrlicher Stolperer!
    Zu was du eigentlich mit deiner Idee finden willst, wird sich sicher heraus stellen, wenn der Anfang gemacht ist. Geschichten beginnen nicht nur im Kopf – ist der Anfang erst einmal da, entfalten sie ihre eigene Dynamik.

    Mit 45 kam ich auf die Idee, dass ich mit 50 den Pilgerweg machen möchte (warum, weiss ich ehrlich gesagt nicht mehr). Ich rechnete damit, dass ich bis dahin keine Kinder mehr zum Versorgen hätte, mir zwei Monate Zeit nehmen könnte, bis dahin trainieren könnte etc. Radikal was Anderes, das schien mir klar. Ich nährte diese Idee sorgsam, und eines Abends rutschte sie mir bei einem Glas Wein heraus. Und dann kam der Gedanke „Warum eigentlich nicht gleich?“ Fortan begann ich – zwar nicht allein, sondern mit meinemMann – mit einzelnen Etappen. Im Moment sind wir im Herzen Frankreichs angekommen und pausieren seit 2010 – irgendwann geht es sicherlich weiter. Die Erkenntnis aus diesen Phasen des Pilgerns, die neben der Spur des alltäglichen Lebens laufen: man kommt mit sehr viel weniger (innerem und äusserem) Ballast sehr gut über die Runden, und an jeder Ecke beginnt eine gute Geschichte, denn jeder beginnt aus unterschiedlichen Gründen, seinen Weg zu suchen. Und eine weitere Erkenntnis: Es ist nicht nur eine Begegnung mit sich selbst, sondern auch mit anderen Menschen, die wie Wegweiser für den eigenen Weg sein können. Und in meinem Leben hat sich seitdem sehr Vieles verändert!

    Wichtig erscheint es, aus dem eigenen Korsett heraus zu kommen. Es sind eben oft nicht die anderen, die meinen Tag zusammen schustern – oft sind es die eigenen Einstellungen, die mich begrenzen. Eine Ortsänderung macht mich ‚verrückt‘. Der Tag ist nicht mehr strukturiert, weil die Ereignisse (oder Nichtereignisse) wenig vorhersehbar ist, was meint, dass ich noch nicht weiss, was mich berührt. Man möchte sich an Altvertrautes klammern (so albern: die Uhr! die Zeitangaben auf den Wegweisern! die Organisation des Nachtquartiers! „Was, vier Uhr und noch nicht eine einzige Tasse Kaffee?“), und merkt doch, dass alles relativ wird – die Ereignisse sind es, die den Zeitrhytmus bestimmen, und wer sich an den alten Rhythmus, der im altvertrauten Leben gut funktioniert, klammern möchte, leidet unsäglich.

    Und doch: auch wenn man zu Hause bleibt, kann man sich auf die Reise machen, sich bewegen.

    Eine Schulkollegin von mir ist auf eine an und für sich geniale Idee gekommen – sie wollte mit ihrer Freundin ein Buch in Briefform schreiben. Ihre Freundlin blieb zu Hause in ihrem altvertrauten Umfeld bei Familie und Verpflichtungen, die Schulkollegin selbst reiste quer durch China. Folglich schrieb sie Reiseschilderungen nach Hause, und die Freundin reflektierte in den Briefen ihr Leben. Das Erstaunliche für mich war: Ein richtiger Dialog im Brief kam nicht zu Stande. Die Schulkollegin war so beschäftigt mit ihren Eindrücken, dass sie die leisen Hinweise der Freundin zu Hause nicht aufnehmen konnte. Die einfachen, aber zwischenmenschlichen Dinge hatten in ihrem Erleben, das reich an äusserlichen Reizen war, keinen Platz. Für mich als Leserin waren die Schilderungen der Freundin mit der Zeit viel interessanter: da ging jemand mit den Menschen um, und kam von der einseitigen Ebene des Beschreibens weg.

    Mal irgendwo anders eine Geschichte anfangen – warum also nicht in New York? Vielleicht ohne den Druck, ein geduckten Ergebnis, einen Leistungsausweis liefern zu müssen, sondern mit der Neugier: Wer begegnet mir? Was begegnet mir? Wie begegne ich mir? (Welche Schuhe bewähren sich?:)) – egal was: das Wesentliche ist die Neugier. (Und falls du jemanden zum Briefeschreiben benötigst: Liebend gerne! Ich bin gut im Fragen stellen.Und du gut in der Beschreibung des Zwischenmenschlichen)

    Herzlich
    Isabel

  5. Hans Alfred Löffler meint

    (Seite 87) «Ebe. Ebe. Ich habe gedacht. Es ist noch grad ase so – meine Lebenserfahrung hat sich immer …» (Seite 102) «… als ich dachte. Darf ich dir ein Küsschen geben zum Abschied?»
    Abgeschrieben aber ernst gemeint von einem «hauptberuflichen Leser», welcher Deinem toten Motor nicht helfen kann, vielleicht hilft tanken, und wenn Du kannst, einem Hörbuch zuhören, z.B. «Das Parfum. 8 CDs: Die Geschichte eines Mörders» … PS: man spricht Deutsch, der Mann heisst Hans Korte (*1929)

  6. Marc-Oliver Bischoff meint

    Das ist immer so mit Träumen, die man zu lange mit sich herumträgt. Ich würde die Reise trotzdem machen. Weil sie anders verlaufen wird, als in deinem Traum. Ganz anders. Weil dir Dinge passieren werden, die du nicht erträumen kannst. Und weil es gar nicht um die Reise oder das Ziel geht, sondern darum, dass du sich selbst aus deinem Leben herausnimmst, so wie es jetzt ist.

  7. Bea schild meint

    Liebe Milena Moser
    Die Reise ist wohl schon getan – Du bist zu Hause gereist, in Dein Inneres, hast Dich dort Deinen Sehnsüchten gestellt, hast dort angefangen zu merken, wann du Hunger hast, Deinen Körper zurück erobert. Deine Bekannten hast Du getroffen, mit alten Freund/-innen geplaudert und gelacht. Wenn auch nur in Deinem Kopf, oder übers Telefon, Skype, Email. Die Neuigkeiten sind ausgetauscht, alte Fäden wieder neu geknüpft. Ist die Reise schon getan?
    Wie gehst Du weiter, wem willst Du begegnen? Wer willst Du werden und sein? Welche Erfahrung und Erkenntnis willst Du erkunden und für Deine Lieben hinterlassen?
    Alles Gute auf Deiner Reise, wie und wohin sie auch führt.
    Bea

  8. Esther Wilson meint

    Liebe Milena,
    ich wünsche Dir den — Kwon – auf Deiner Reise -dieses Gefühl der Energie, der inneren Melodie, viele Momente, wo Du diesen Idealzustand hast: Freiheit, Reichtum und Glück oder so. Nimm viele Notizzettel oder Blöcke mit. Reisen inspiriert.
    Alles Gute, eine tolle Reise, sei vorsichtig. Bhüet di Gott. Het amel mini Grossmuetter gseit.
    Viele fb-Grüsse von
    Deiner Leserin Esther Wilson

    • BurgerTrice meint

      Liebe Milena: haben wir die Reise in unser Inneres hinter uns gebracht brauchen wir also keine Reise mehr ? Nein, — es ist einfach eine andere Form von Reise, und sie hat genau so ihre eigene Daseinsberechtigung. Es ist sicher nicht die Reise eines *Eat, Pray and Love*, wo man sich selber hinauswirft in den *SelbstErfahrungsTrip* und sein Leben in eine andere Richtung zu bringen versucht um besser zu überleben— oder überhaupt zu überleben ……. !
      Viele Reisen entstehen einfach als *Kick* aus dem gelangweilten Alltag, unter privilegierten Umständen mit einer vollen MasterCard im Hintergrund.— Ich hatte auch oft davon profitiert — viel zu oft — bis ich merkte, dass sie mich nicht aufweckten, nicht viel weiter formten— dort wo ich es tatsächlich wollte ! — Die SMS`s und die Verbindung ans gewohnte Zuhause tragen uns wohl wunderbar durch Freuden und Nöte im fernen Abseits, aber man tanzt dadurch fast unbemerkt auf zwei verschieden Hochzeiten, — und das unablässige Fotografieren, das *Festhalten wollen* kommt oft noch dazu.
      Und dann erprobte ich vor Jahren die Reise nach Kyoto, ohne Kontakt mit dem Zuhause, ohne festen Plan, mit wenig Geld, ganz allein mit mir und dieser absolut fremden Kultur um mich herum. Hätte ich nur darüber schreiben können, was da alles mit mir passierte. — Deshalb möchte ich dir aus dieser Erfahrung nur einen vorsichtigen Tip mitgeben auf deine Reise, liebe Milena: Halte uns nicht immer auf dem Laufenden was mit dir gerade passiert. Ich bin überzeugt, deine *Brillante Idee* wird um Einiges brillanter werden ……. ! Gute Reise wünsche ich dir aber von ganzem Herzen — Béatrice

    • Milena Moser meint

      @ Trice: Wichtiger Hinweis, danke! Ich wünschte aber, du würdest über Kyoto schreiben – auch im Nachhinein…
      @ Corinne: Die Verpflichtungen geben uns ja auch Halt… Auch darüber denke ich nach. Danke.

    • BurgerTrice meint

      Gute Idee, Milena, danke ! — denke darüber nach — hatte damals ca. 400 Fotos gemacht — auch eine Form des *Festhaltens* …..

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