Es regnete in Lissabon

Ich hatte Sommerkleider eingepackt, es sollte über zwanzig Grad warm sein in LIssabon. Ich würde, so stellte ich mir vor, ich würde an der Sonne sitzen, in Bars herumstehen, Musik hören, grünen Wein trinken, tanzen. Statt dessen regnete es. Es regnete drei Tage lang und es war dunkel. Ich hatte überhaupt keine Lust, vor die Haustür zu gehen, etwas zu unternehmen, mir etwas anzuschauen. Wozu auch? Die Wohnung war gross und schön und zum Schreiben eingerichtet. Überall Bücher und Licht und bequeme Stühle. Und so stand ich morgens früh auf und setzte mich auf eines der Sofas, zündete eine Kerze an und es passierte das, worauf ich nicht mehr zu hoffen gewagt hatte: Es schrieb einfach.

Klingt doof, ich weiss. „Es“ schrieb, welches „es“ denn zum Teufel und bitte schön? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass ich mich hinsetzte, ohne zu wissen, was ich schreiben würde. Ich öffnete ein neues Dokumen, beide Hände einen Augenblick lang über der Tastaur ausgestreckt, mit gespreizten Fingern, wartete. Nichts. Kein Satz, keine Idee, kein Bild. OK, dachte ich, und jetzt? Und plötzlich war ein Bild da. Es bewegte sich. Es redete. Nevada in einem Zimmer mit vier Männern in schwarzen Kimonos und mit bunten Bändern an den Handgelenken. Erika in der Damentoilette im Kongresshaus, einen winzigen Schluck Wodka nehmend, aus dem Lautsprecher wird ein Vortrag des Dalai Lama übertragen. Nevada küsst Dante vor den Augen der strengen Sekretärin ihres gemeinsamen Neurologen. Erika sieht ihr Gesicht im Spiegel. Und so weiter.

Szenen, die irgendwie schon da waren, und Szenen, die nicht. Erika hat sich noch einmal grundlegend verändert, sie ist wieder der unangenehme, gebrochene, grausame Mensch, den ich ganz zu Anfang in ihr gesehen habe und dem ich lange ausgewichen bin, indem ich mich auf ihre unglückliche Ehe konzentrierte. Ein Umweg. Aber auch wenn von diesen Umwegseiten nicht viel bleiben wird – wer weiss – so helfen sie mir doch, Erika besser zu verstehen. Dieses Verständnis wiederum macht es mir erst möglich, ihr in den Abgrund zu folgen, ihn genau anzusehen und zu beschreiben. Weil ich auch weiss, dass sie mindestens versucht, aus diesem Abgrund herauszuklettern, auf allen Vieren, mit aufgeschürften Knien und blutenden Händen.

Eines Morgens sah ich auch endlich die Szene, in der sich die beiden Geschichten, die von Nevada und die von Erika, kreuzen. Dass und vor allem, wann diese beiden Erzählströme zusammenfliessen: viel später als vermutet.

Diese Woche hatte ich das Gefühl, das Buch schreibt sich von alleine. Nächste Woche, das weiss ich, wird es wieder ganz anders sein. Aber immerhin kann ich dann hierher zurückblättern und es nachlesen. ich habe es festgehalten: Es schreibt.

Gestern habe ich dem grossen Meister zugehört, Julian Barnes, der Fragen zum Schreiben beantwortete und mir aus der Seele sprach. Allerdings haben die unbestechlichen Zeugen, die neben mir sassen, etwas ganz anderes gehört als ich, deshalb wiederhole ich es hier nicht.

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Leser-Interaktionen

9 Kommentare

Kommentare

  1. Regula am See meint

    Liebe Alle im Nebel,

    wähhh, so gruusig. Keine Lust auf das kommende Wetter, so habe ich mich über die Mail von René und seinem erfreulichen Bericht zum neuesten Stand seines Projekts gefreut. René habe ich im 2010 in einem von Milenas Schreibkursen kennengelernt. Unter folgendem Link erfahrt ihr mehr zu der geplanten Veröffentlichung des Buches und wie ihr ihn dabei Unterstützen könnt http://wemakeit.ch/projects/unzertrennlich-das-buch

    Einen lieben Gruss vom See, Regula

  2. Karin meint

    Ich gebe SoSo recht. Wenn Du in Lissabon schreiben kannst, immer zu. Wenn es ein anderer Ort sein soll, auch recht. Ich bin da total rücksichtslos, Nevada ist mit in den Montagsmenchen so ans Herz gewachsen, ich will wissen, wie es weiter geht. :-)
    Alles Liebe Karin
    PS: Julian Barnes klingt sehr interessant

  3. Graziella meint

    Dem Dank für die Kommentarfunktion kann ich mich nur anschliessen! Was das Erlebnis betrifft – es klingt so wunderschön, dass ich mich am liebsten in der nächsten Ecke zum Schreiben verdrücken würde. Zum freien Schreiben, nicht zweckgebunden, nicht wissend, nichts ahnend. Ich drück Dir die Daumen, dass dieses Gefühl, Dich noch eine Weile begleitet

  4. Regula Haus-Horlacher meint

    Liebe Milena
    Seit Tagen warte ich auf eine Eingebung, um dir auf deinen Blog-Input zu antworten. Nun ist schon der Nächste an der Reihe. Nichts fällt mir ein, ausser Sprüchen. Selber denken scheint im Augenblick nicht drinzuliegen. Bleib auf dem Teppich. Ein Prozent ist Talent, 99 Prozent sind Arbeit. Es, es, es und es, es ist ein harter Schluss, weil, weil, weil und weil, weil ich aus Frankfurt muss …

    ES.
    ES hält mich über Wasser, wenn ich am Ertrinken bin. Zurzeit mit Kalendersprüchen. Ich bin geradezu süchtig nach solchen Textfetzen. Wenn ich am nächsten Tag frei habe, blättere im Altersheimkalender heimlich nach vorne. Alles, was du schenkst, begleitet dich in den Himmel. Wer liebt, hat den rechten Glauben.
    Womit wir wieder beim Thema wären: Was ist Liebe?

    4 Die Liebe ist geduldig und gütig.
    Die Liebe eifert nicht für den eigenen Standpunkt,
    sie prahlt nicht und spielt sich nicht auf.
    5 Die Liebe nimmt sich keine Freiheiten heraus,
    sie sucht nicht den eigenen Vorteil.
    Sie lässt sich nicht zum Zorn reizen
    und trägt das Böse nicht nach.
    6 Sie ist nicht schadenfroh,
    wenn anderen Unrecht geschieht,
    sondern freut sich mit, wenn jemand das Rechte tut.
    7 Die Liebe gibt nie jemand auf,
    in jeder Lage vertraut und hofft sie für andere;
    alles erträgt sie mit grosser Geduld.
    Korinther 12, 4-7

    Das ist mein Credo. Eigentlich. Aber jetzt möchte ich jemanden aus dem Weg haben! Ich, das Lamm unter den Lämmern, das Schaf im Schafspelz … Was soll ich bloss tun?!
    Vielleicht eine Geschichte schreiben? Der Schuss auf den Mond. Mäh.
    ;-)

    Herzlich
    Regula

  5. Hans Alfred Löffler meint

    Eigentlich hätte ich gerne erfahren was Julian Barnes „aus Deiner Seele“ geantwortet hatte, weiss aber auch weshalb Du das nich wiederholen wolltest, den der Autor Julian Barnes hatte einmal gesagt: „….. dass jeder Mensch, der in eine Beziehung involviert ist, eine ganz eigene Auffassung von dieser Beziehung hat…“. Von Deiner Beziehung zum „es“ weiss ich wenig, immerhin es schreibt. Gut so!

  6. Sofasophia meint

    liebe milena
    zuerst ganz herzlichen dank fürs wiederherstellen der kommentarfunktion für nicht facebookerInnen.
    dieses lissabon-erlebnis klingt verrückt. ich bin total froh für dich (und für uns zukünftige leserInnen), dass du vorankommst. ich kann nicht umhin, als diesem buch entgegenzufiebern.
    liebe grüsse
    sofasophia

    • Gise Kayser-Gantner meint

      … und weil ich alles unterschreiben kann, was alle anderen schon geschrieben haben, stimme ich hier – in meiner ureigensten ausschweifenden Art – hemmungslos zu: Ich will das Buch ganz bald in Händen halten – Deine Personen muss ich weiter begleiten. Sie leben so intensiv – und bei allen Ecken und Kanten – so gradlinig, was gelebt werden muss – hier … jetzt … das ist doch das, was der Dalai Lama … ich schweife ab!

    • Isabel meint

      Lissabon im Regen ist schon für sich romanträchtig und versetzt mich in die Zeit, als Flüchtlinge versucht haben, sich aus Europa zu schiffen. Geräuschlose Hektik, Liebe in Hinterzimmern, die auf den Moment ausgerichtet ist, einfach das nehmen, was das Leben jetzt noch zu bieten hat, Trennungen, Tränen, bange Hoffnung und Angst vor dem Ungewissen. Lissabon in der Sonne: Jede Strasse bringt eine andere Wendung, und doch macht dass Licht erbarmungslos den Einfluss der Zeit sichtbart. Prunkvolle Strassen und Hauseingänge, die im Dunkeln offenbaren, dass neben dem Luxus, der einer Weltstadt Tribut zollt, die Armut Schritt für Schritt Begleiter ist: In den offenen Mäulern dort drücken sich Obdachlose vor Regen und Kälte in Sicherheit.

      Das Auf und ab der Strassen, die Hügel, die Teil der Stadt sind, scheinen Sinnbild für die Kontraste, das Vergangene und Jetzige, aber auch für die Zukunft zu sein: Moderne Bauten, zum Teil nicht zuende geführt und oft menschenleer, dannn über dem eigentlichen Getriebe der Stadt alte Kultur in Gassen, in denen sich kaum ein Tourist verirrt. Traditionelle Feste, die immer noch gefeiert werden, und die ehrfurchtsvoll berühren, aber den Fremden zeigen, dass hier ein geschlossener Lebensraum atmet, der für andere nicht zugänglich ist…

      Vielleicht gibt es ja doch so etwas wie eine Dichte der Bilder an bestimmten Orten, die einen Flow auslösen, so dass ‚es‘ schreibt…

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