Kalter Entzug

Ab Morgen bin ich weg. Nicht weg, in den Ferien, wie jetzt, sondern weg-weg. Weg vom Fenster. Incommunicado. Ich mache einen Rückzug, so heisst das Wort, wörtlich übersetzt: retreat.

„Schlechtes Timing“, sagten die anderen gestern bei „tater tots“ und Drinks im „Broken Record“ – sie wollten mich ein letztes Mal ausführen und mit fettigem Fingerfood füttern, bevor ich die Askese übte. „Deine Ferien fangen doch erst an!“

Das können sie auch dort, denke ich, hoffe ich. Ich habe so etwas noch nie gemacht. Eine Woche lang sitzen und schweigen, von morgens halb sechs bis abends um neun. Sitzen, sitzen, sitzen, essen, sitzen, gehen, sitzen, sitzen, arbeiten, sitzen, sitzen, sitzen… Nicht reden. Kein Telefon, kein Email, keinen Rotwein (wohl aber Kaffee, den ich samt Espressokocher einzuschmuggeln gedenke). Das alles macht mir keine Angst. Nur das: Nicht lesen, nicht schreiben.

Nicht lesen, nicht schreiben. Ich weiss nicht, wann ich zuletzt eingeschlafen bin, ohne mit dem Gesicht in ein Buch zu fallen. Als ich jünger war, entschied der Gedanke an einen noch nicht ganz zu Ende gelesenen Krimi auf dem Nachttisch die späte Frage, ob ich nachhause fahren oder bleiben würde.  Wenn Freundinnen Listen mit Attributen aufstellten, die ihren Traummann bestimmten, stand bei mir zuoberst: Er muss lesen, er muss im Bett lesen, er muss es mögen, dass ich im Bett lese. Nicht jeder Mann mochte das, so dass ich mich manchmal mit einem halbgelesenen Buch versteckte wie mit einem Liebhaber.

Meinen Geburtstag waren wir in einem Strandhaus gefeiert. Als alle wieder abgereist waren, blieben eine Freundin und ich mit unseren beinahe erwachsenen Söhnen zurück. Und mit unseren Büchern. Zwei Tage lang bewegten wir uns langsam von Strand zu Liegestuhl zu Sofa und wieder zurück. Als es zu regnen begann, schauten wir uns an und sagten: „Perfekt.“ Wir lasen jede noch zwei Bücher, bevor wir abreisten. Und unsere Freundschaft hatte eine neue Dimension gewonnen.

Ich weiss nicht, wann ich zuletzt einen Tag verbracht habe, ohne etwas aufzuschreiben. Nicht nur Geschichten – einfache Notizen, Listen, Erinnerungen, Gedankenfetzen. Seit ich klein bin, stellt der Bleistift die einzig zuverlässige Verbindung von meinem Kopf zum Rest von mir, zum Rest meines Lebens her. Zum Rest der Welt.

Der Sinn so eines Rückzugs, habe ich mir sagen lassen, ist genau der. Alles wegzulassen, was einen sonst bestimmt. Die Arbeit, das Telefon, die schönen Kleider, die eigene Stimme, mit der man sich vorzu neu definiert: Die bin ich, das mache ich, das denke ich, das ist meine Meinung. Das Lesen vor dem Einschlafen, das Schreiben. Wenn man alles weglässt, was einen definiert, was bleibt dann? Wer ist man?

Ich gebe zu, ich habe mir kurz überlegt, ein angelesenes Buch einzuschmuggeln, ein Heft, einen Bleistift. Bis ich erfuhr, dass ich ein Zimmer mit meiner Lehrerin teilen würde. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als mich wirklich ganz auf das Abenteuer einzulassen, zu dem ich mich immerhin freiwillig entschieden habe.

Ob sich die Wörter in meinem Kopf stauen oder auflösen werden – so oder so wird mein nächster Eintrag einen Tag später als sonst erscheinen.

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Leser-Interaktionen

1 Kommentare

Kommentare

  1. Sofasophia meint

    Mir wird erst jetzt, beim Lesen dieses Artikels bewusst, dass ich ja auch lesesüchtig bin. Dass ich auch nicht ohne Buch auf dem Nachttisch schlafen kann, und wenn kein Buch zur Hand ist (und mir die Hände zittern), dann muss etwas anderes zum lesen her – notfalls tut’s auch das iPHone. Aber irgendwas zu lesen. Das ist die Schoggi für mein Hirn.

    Deinen Mut zu diesem Retreat bewundere ich. Ich denke ja schon, dass das zu ganz neue Möglickeiten und Sichtweisen verhilft, die ich mir auch wünschte, aber vor diesen zu erwartenden „Strapazen“ habe ich doch allergrössten Respekt. Hut ab!

    Und eine wunderbare, erneuernde Zeit für dich!

    Liebe Grüsse, Sofasophia

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