Bestsellerbasteln

Neulich habe ich eine Berufskollegin zum Essen getroffen, was eher selten vorkommt, weil ich nicht so viele Schriftstellerinnen kenne und eigentlich nur mit einer richtig befreundet bin, egal, also wir sassen beim Essen, nicht meine Freundin und ich, sondern eine andere Schriftstellerin und ich und –

so sollte wirklich keine Geschichte beginnen! Sorry. Noch  einmal:

„Einen Bestseller muss man planen“, sagte die Kollegin. „Den musst du berechnen.“ Sie sprach von Christian Kracht und Charlotte Roche, machte eine Liste von Themen, die garantiert einen Skandal entfachen und Buch wie Kritiker in den Medien köcheln lassen. „Nazis, Sex, Geschichte“, sagte sie. „Deck irgendeinen uralten Schweizer Skandal auf und garnier ihn mit Verdingbuben. Noch besser, Sex mit Verdingbuben!“

Ich entschied mich, zu lachen. Ich glaube nicht an das Bestsellerbasteln. Wie ich „Wirkung konstruiere“, wurde ich kürzlich gefragt, und wusste nicht, was antworten. Wirkung konstruieren? Kann man das wirklich? Kann man etwas anderes schreiben als das, was man muss? Ist das nicht furchtbar anstrengend, der Ausgang nicht schrecklich unsicher? Christian Kracht hab ich zwar nicht gelesen (und auch nicht die leicht entflammbare Rezension im Spiegel, nur Berichte über die Berichte), dafür das zweite Buch von Charlotte Roche. Und wenn ich auch keinen Sex darin finden konnte, so hatte ich doch ganz stark das Gefühl, die Lebensangst der Autorin knistere zwischen den Zeilen, ihre Verzweiflung fülle die Abstände zwischen den Wörtern, kurz, ich las das Buch als ein echtes. Meine Kollegin aber kennt jemanden, der gehört hat, Frau Roche habe ihr zweites Buch genau wie das erste kaltblütig konstruiert, auf maximale Aufmerksamkeitserregung angelegt. Nun, wenn das stimmt, dann hat es ja wenigstens funktioniert. Was aber, wenn eine Autorin, die nicht schon „bekannt aus Funk & Fernsehen!“ ist, mühselig einen Topf voller Skandalzutaten anrührt, und am Ende interessiert es keinen? Hätte sie in der selben Zeit nicht besser ein schönes Buch geschrieben, eines, das sie selber glücklich macht? Eines, das, Bestseller oder nicht, ihres ist?

Wie gesagt. Wie es die anderen machen, kann ich nicht wissen. Doch auf dem Weg nachhause wurde mir plötzlich klar, dass der zweite Weltkrieg durchaus Teil der Geschichte ist, die ich gerade schreibe. Wenn es wirklich diese Familiengeschichte bleibt. Diese unglückselige Verkettung von Müttern und Töchtern. Wenn Erika so alt ist wie ich, ist ihre Mutter während des Krieges geboren und deren Mutter wiederum… Sch….!!!

Den zweiten Weltkrieg hab ich als Thema immer sehr bewusst ausgespart, obwohl er Teil meiner Geschichte ist. Mein Vater war Deutscher, Jahrgang 1925. Das hat mich durchaus beschäftigt. Schon als Kind. Da hockt durchaus ein Klumpen Stoff (nass, modrig, hinter eine Wasserleitung im Keller geklemmt?) Doch irgendwie, ich weiss nicht – schien mir das immer billig. Der zweite Weltkrieg ist so ein „go-to“, so ein sicherer Wert, da hat die Kollegin schon recht. Als ich ein junges aufmüpfiges Ding war, habe ich mich furchtbar über das geärgert, was damals als „richtige“ Literatur verkauft wurde: Frauen, die nur „die Frau“ oder Anna heissen, und denen ein Kübel übelriechender Gülle, einer Mischung aus Krebs, Nazis, Missbrauch und genereller Gefühlskälte über den Kopf gekippt wird. Da stehen sie dann tropfend, leidend. Reflektierend. Die Bücher dieser Zeit waren alle so schwer, wenn man die auf den Tisch legte, brach die Platte ein. Dagegen stemmten wir uns, von mir aus höchst pubertär, mit „Sans Blague“, dem Magazin für Schund und Sünde. Antiliteratur.

Z’leid nicht! dachte ich damals. Aber eben, die Pubertät liegt hinter mir. Vielleicht ist es Zeit, mich meinen Themen zu stellen? So, wie ich es euch ja auch immer einbläue, hmmm???

Zum Glück drängen sich im Moment hauptsächlich Szenen aus der Gegenwart aufs Papier, und ich kann mich noch ein bisschen länger drücken….

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17 Kommentare

Kommentare

  1. Regula meint

    Liebe Milena, liebe Frauen (schreiben eigentlich keine Männer in deinen Blog?)

    hast du die Karte mit den Stiefeln bekommen :-)??

    Mich hat dein Blog Eintrag „Preisgeben“ angesprochen (viele andere Einträge auch, natürlich ;-). Ich lese zurzeit ein Buch von Thomas Prünte „Vom Sinn schlechter Tage“ Warum es gut tut, sich schlecht zu fühlen. Komme zwar im Moment nicht so flüssig voran wie ich gerne möchte aber hin und wieder, schaffe ich ein paar Seiten. In seinem Buch sind unter anderem Aussagen von einigen Be-, und Unbekannten zu finden wie zu Beispiel von Hanna Schygulla die sich in einem Zeitungsinterview nicht nur körperlich, sondern auch seelisch vollkommen ungeschminkt gezeigt hat: „Ich habe mir angewöhnt, meine Schwächen lieber offenzulegen. Sonst bestimmen sie doch mein Leben, weil mich die Angst begleitet, andere könnten sie entdecken. Wenn wir darauf verzichten, besonders toll zu sein, bringt uns das wirklich voran. Gerade als Schauspieler muss man auch das zeigen, was man nicht so gerne zeigt. Erst dadurch eröffnen sich neue Möglichkeiten. Ich kann es geniessen, nicht mehr dem Idealbild entsprechen zu müssen. Wie schön entspannend ist es doch, einfach so, wie ich eben bin, auch mal ganz ungeschminkt auf die Strasse zu gehen.“

    Habe mir dein neues Buch und auch High Noon im Mittelland letzte Woche gekauft. Werde aber beide „aufsparen“ bis ich mich im April gemütlich an der Sonne, in einen Liegestuhl fläzen kann. Bis dahin lese ich dich in deinem Blog und werde dich in der Bibi in Horgen hören :-), freue mich!

    Bis dann, liebe Grüsse und einen schönen Abend!
    Herzlichst, Regula

    • Barbara meint

      @Regula: … nicht dem Idealbild entsprechen müssen, auch nicht dem eigenen Idealbild und sich selber eine bedingungslose Selbsttreue schwören, selbst wenn man den Eindruck hat, gerade so einiges nicht auf die Reihe zu kriegen … ich arbeite daran …
      Und dann noch etwas Interessantes für deine Rahel. Ich bin gestern auf einen Artikel mit dem Titel „grosses Potenzial von Robotern in der Pflege“ gestossen. Das Ding heisst „Hospi“ und verteilt Medikamente. Vorerst nur das. Es soll in Zukunft aber auch helfen Haare zu shampoonieren, zu waschen, Patienten aus oder ins Bett zu bringen, usw. Hospi ist programmiert, Menschen nicht gefährlich zu werden, aber es ist trotzdem verboten, zusammen mit Hospi im Fahrstuhl zu fahren. Paro, der Roboter-Seehund soll bereits erfolgreich in der Therapie von Alzheimerpatienten eingesetzt worden sein. Milena, vielleicht liegt da die Zukunft? Statt Wunderdroge oder Hund, der ausgeführt und gefüttert werden muss? Ich bin nachwievor für Wunderdroge. Klingt sinnlicher. … Aber nochmals zu Hospi. Hospi wird sich für Rahel rächen. Er nimmt keine widersprüchlichen und unfairen Praktikumsberichte entgegen. Er dreht den Spiess um und verlangt eine eindeutige, fehlerfreie Programmierung. Wenn nicht, übergibt er der zuständigen Schwester mit seinem Dauerlächeln die Fehlermeldung, die gleichzeitig in einem Fehlerprotokoll gespeichert wird, als Information für das nächste Qualifikationsgespräch, das Hospi anstelle der vorgesetzten Person ausspuckt. Oder er fällt im Lift über die Schwester her, falls der Vorsetzte etwas falsch programmiert hat …

    • Regula Haus-Horlacher meint

      Liebe Barbara
      Herzlichen Dank für den Tipp!
      Ich weiss nicht, ob ich mir so einen Hopsi bestelle. Er ist mir ein wenig unheimlich (legt mir womöglich noch Wörter in den Mund, die ich gar nicht gedacht habe…) und sowieso mache ich die Arbeit im Altersheim ja liebend gern selber.
      Mit Wunderdrogen ist es auch so eine Sache: Ich vertrage ja nicht einmal Codein, das euphorisierend (neben)wirken und süchtig machen soll. Mir wurde nur schlecht davon.
      Ich glaube, ich bleibe lieber beim Schreiben meines Bestsellers. Das macht Spass und kostet nichts. Es sind nämlich sensationelle Enthüllungen bekanntgeworden: Nochmal-Rahel hat ihr Inkognito gelüftet. Es handelt sich bei ihr sage und schreibe um Rosemarie Herzogin von Brockenhaus! Da staunst du aber, nicht wahr? Ja, und soeben ist bekannt geworden, dass sie zwei Nächte in Solothurn reserviert hat, während der Literaturtage. Im Hotel! Stell dir das mal vor! Und Sommerferien will sie auch buchen! Wo ist noch nicht erfunden, aber man munkelt, sie habe eine traumhafte Ferienwohnung in Saas Fee entdeckt und gar nicht so teuer!!
      Zum Schluss noch die Frage, mit der alles steht und fällt: Wird der schöne Baron Lorenz von Trappen den heimlichen Wunsch der Herzogin Rosemarie erraten? Wird er ihr während ihrer Ferien Gesellschaft leisten?

      Fortsetzung folgt.

  2. Regula Haus-Horlacher meint

    Versuch, einen Bestseller zu basteln:

    Titel: Nochmal Rahel
    1.Kapitel: Eine ganz gewöhnliche Nacht in Rahels Leben

    Immer nach dem Nachtessen muss Rahel ihre Emails checken. Eine Tortur jeden Abend, besonders, wenn sie sich wieder einmal einen ihrer „Vorstösse“ geleistet hat. Heute ist es nicht gar zu schlimm. Rahel hat zwar wegen ihres Praktikumsberichts Einspruch erhoben, aber sie hat die Antwort schon bekommen: Die zuständige Schwester hat sie ihr im Geschäft ausgedruckt ins Fächli gelegt. In Luisas Blog hat sich eine Bigna neu zugeschaltet. Rahel freut sich, weil Bigna auf einen ihrer eigenen Beiträge Bezug genommen hat. Sie will ihr antworten, aber auf die Schnelle fällt ihr nichts ein. Also morgen. Rahel zwingt sich, sich nicht – wie so oft – allzu lange mit dem Suchen nach Lesungsterminen von Autoren, die sie besonders mag, aufzuhalten und clict auf „Herunterfahren“. Dann setzt sie sich an ihren Schreibcomputer. Sie kommt erstaunlich gut vorwärts. Bilanz: Um 22 Uhr ist das Säntis-Kapitel so gut wie fertig, nur noch die Gipfeli-Episode fehlt, mit der sie das Kapitel abschliessen will. Schweissausbrüche: Drei in zwei Stunden, das ist zu verkraften.
    Rahel geht ins Bett. Sie liest noch ein paar Seiten, dann fallen ihr die Augen zu. Einschlafen ist meistens kein grosses Problem. Um 24 Uhr erwacht sie, weil sie zur Toilette muss. Sie findet es interessant, dass sie nie schweissgebadet aufwacht, sondern dass die Schweissausbrüche immer erst unmittelbar nach dem Erwachen auftreten. Als ob sich ihr Körper an einen soeben geträumten belastenden Traum erinnern würde, ihr Bewusstsein aber nicht. Inzwischen ist sie überzeugt, dass die Schweissausbrüche einen direkten Zusammenhang mit dem haben, was gerade in ihrem Kopf abläuft, also stressbedingt sind. Den wechseljahrbedingten Anteil (Herzklopfen, Atembeschwerden) ist sie mit Hilfe von Frischpflanzentropfen und Kinesiologie weitgehend losgeworden. Die Hitzeanfälle beschränken sich jetzt auf Kopf und Oberkörper, die sich dann mit einem feinen Schweissfilm überziehen. Das beinahe sturzbachartige Austreten von Schweiss am ganzen Körper hat Rahel wenigstens tagsüber schon seit längerer Zeit nicht mehr gehabt.
    Sie steht auf, trinkt ein Glas eisgekühltes Wasser, von dem sie immer eine Flasche im Kühlschrank bereitstehen hat, geht zur Toilette und wechselt ihren Pyjama. Dann wendet sie das Kissen, bringt das zerwühlte Bettzeug etwas in Ordnung und legt sich wieder hin. Dass sie jetzt nicht gleich einschlafen wird, weiss sie im Voraus. Seit Jahren verbringt sie nachts viele Stunden wach im Bett. Sie glaubt, dass sich ihr Körper trotzdem erholen kann, wenn sie einfach still liegenbleibt, und vermutlich ist das auch so, sonst wäre sie schon längst vom Schlafmangel krank geworden. Heute kann sie die Geduld nicht aufbringen. Sie beginnt nachzudenken. Die individuelle Anpassung an die zu betreuende Person sei manchmal zu kurz gekommen, steht in ihrem Praktikumsbericht. Rahel hatte wissen wollen, was das genau hiess. Sie hätte sich sehr am vorgegebenen Tagesablauf orientiert und sich teilweise schwergetan, diesen der zu betreuenden Person anzupassen, hatte die zuständige Schwester geantwortet. Ja. Alles klar. Da war sie wieder ihre Schwerfälligkeit, ihre mangelnde Spontaneität, ihre Unfähigkeit, einmal gefasste Pläne über den Haufen zu werfen… So war es schon mit Fredi gewesen: Beispielsweise hatte er in einem Verein mitgemacht. Was für ein Verein ist noch nicht erfunden, fest steht erst, dass das Training, die Probe oder was auch immer, zweimal pro Woche um 18.30 Uhr stattfand. Während der ersten Jahre ihrer Ehe hatte Rahel an diesen beiden Abenden immer früher gekocht als sonst, damit Fredi trotzdem rechtzeitig hinkam, und sie hatte darauf geachtet, dass es ganz sicher keines der Gerichte war, von denen er Darmbeschwerden bekam. Fredi sagte zwar immer, sie müsse nicht auf ihn Rücksicht nehmen, er könne auch nur ein Stück Brot essen, aber das schaffte sie nicht. Bei seinem empfindlichen Darm, fand sie, müsse er wenigstens einmal am Tag eine warme Mahlzeit bekommen, am Mittag ass er ja auch nur ein Sandwich. Mit der Zeit ging er immer seltener ins Training und schliesslich gar nicht mehr. Rahel machte sich Vorwürfe. Diese blöde Kocherei! Warum musste sie so stur sein! Dabei hätte sie nur auf ihn hören müssen. Er hatte ja gesagt, dass ihm ein Stück Brot genüge.
    Die Schwester nannte in ihrem Antwortschreiben ein Beispiel: Rahel hatte den Auftrag bekommen, eine Frau aufzunehmen, zu waschen, anzukleiden und zum Frühstück in den Speisesaal zu begleiten. Als sie ins Zimmer der Frau kam, schlief diese noch. Rahel wusste, dass man die Leute in der Regel nicht weckte, besonders wenn die Nachtwache rapportiert hatte, die betreffende Person hätte eine schlechte Nacht gehabt. Doch diese Frau war Diabetikerin. Deshalb fragte Rahel sicherheitshalber nach, ob sie sie weiterschlafen lassen könne. Dies abzuschätzen wäre aber Teil ihrer Aufgabe gewesen.
    Hä?! Unterzuckerung ist lebensgefährlich! Rahel kann nicht glauben, dass sie in einem Praktikum, das gerade mal zwölf Tage dauert, tatsächlich die Verantwortung für eine solche Entscheidung übernehmen muss! In jedem, aber auch wirklich jedem ihrer bisherigen Jobs stürzte sie sich vom ersten Tag an mit einer Riesenbegeisterung in die Arbeit, brachte neue Ideen ein und übernahm Verantwortung. Prompt bekam sie regelmässig schon nach kurzer Zeit eins auf den Deckel: Ein paar Alteingesessene begannen Amok zu laufen, und man legte ihr nahe, die bestehenden Abläufe zu beachten. Rahel hatte aus ihren Fehlern gelernt. Im Praktikum, hatte sie sich vorgenommen, würde sie sich erst einmal in den Betrieb einfügen, sie würde sich bemühen, so viel wie möglich zu lernen, und sie würde keine Abläufe ohne nachzufragen ändern. Die Lehrerin im Theorieteil der Ausbildung hatte immer wieder betont, dass man als Pflegehelferin seine Kompetenzen nicht überschreiten dürfe. Als Praktikantin noch weniger, hatte Rahel gedacht. Doch in der Wirklichkeit sieht das offenbar ganz anders aus als in der Theorie! Rahel hat das Praktikum bestanden, bei allen erforderlichen Kriterien ist „erfüllt“ angekreuzt. Aber wer beachtet schon diese Kreuzchen? Die Bemerkungen sind das, was zählt! Sie braucht diesen Bericht für ihre Bewerbungen. Was soll sie bloss tun??
    Erneut bricht Rahel in Schweiss aus. Seufzend macht sie Licht. 2.30 Uhr. Sie rechnet kurz nach, wie viel Zeit ihr noch bleibt, bis sie aufstehen muss. Drei Stunden und zehn Minuten. Das genügt. Sie steht auf, stellt einen Stuhl neben das Bett und installiert darauf ihren Discman. Sie besitzt zwei CDs mit Meditationsmusik, die sie einmal von ihrer Therapeutin geschenkt bekommen hat, eine stündige und eine anderthalbstündige. Die Anderthalbstündige braucht sie, wenn sie zum Beispiel morgens schon um fünf aufwacht und nicht zur Arbeit muss, die Stündige, wenn es so ist wie jetzt. Die Hoffnung, dass sie nach einer Stunde Meditationsmusik ein bis zwei Stunden schlafen kann, ist berechtigt: Meistens funktioniert es.
    Rahel trinkt ein Glas Wasser, geht zur Toilette, wechselt den Pyjama, wäscht und cremt sich das Gesicht, füllt eine Bettflasche mit warmem Wasser. Sie fröstelt. Wieder im Bett setzt sie den Kopfhörer auf, legt sich mit angezogenen Knien auf den Rücken, bedeckt die Augen mit einem Tuch und klemmt die Bettflasche zwischen die Oberschenkel. Anfangs muss sie sie noch ein paarmal unter der Bettdecke hervornehmen, dann beginnt die Meditationsmusik langsam zu wirken, sie gewöhnt sich an die Wärme und beruhigt sich. Im Halbschlaf fällt ihr eine Antwort an Bigna ein. Was Rahel jetzt macht, macht sie sonst nie: Sie unterbricht die Meditation während des zweitletzten Stücks, um die zwei Sätze aufzuschreiben. Dann richtet sie sich wieder ein und hört die CD zu Ende an. Mit möglichst wenig Bewegungsaufwand streift sie den Kopfhörer ab, legt ihn zum Discman auf den Stuhl, und dreht sich samt Bettflasche zur Wand. Sie zwingt sich, nicht zur Toilette zu gehen, weil sie sonst gleich wieder hellwach ist. Der Druck in der Blase ist etwas unangenehm, aber sie schafft es, ihn zu vergessen und kann einschlafen.
    Sie träumt von einem Mann, den sie sehr liebt. Er heisst Lorenz. Sie ist zum ersten Mal bei ihm zu Besuch. Auf dem weissen Tisch in seinem hellen, schlicht eingerichteten Wohnzimmer steht eine quadratische, erdfarbige Keramikschale, in der sich einige Berliner Pfannkuchen befinden. Rahel ist gerührt, weil Lorenz etwas für sie beide eingekauft hat. Sie hat keine Ahnung, warum er sich gerade für Berliner entschieden hat, aber sie ist überzeugt davon, dass er sich etwas dabei gedacht hat. Dann beginnt er zu sprechen. Rahel erschrickt. Der Mann ist Lorenz, doch aus seinem Mund tönt eindeutig Fredis Stimme. Nein, ruft Rahel, nein!, und weicht, die Arme abwehrend vorgestreckt, rückwärts zur Tür. Dann erwacht sie und bricht in Schweiss aus. Sie macht Licht. Der Wecker zeigt 5.28 Uhr. In zwölf Minuten muss sie aufstehen. Sie überlegt sich, ob sie noch einmal den Pyjama wechseln soll, findet dann aber, dass sich der Aufwand nicht lohnt. Fröstelnd schmiegt sie sich an die schon fast ausgekühlte Wärmeflasche.
    Wie kommt sie nur darauf, so etwas zu träumen?
    Da läuft etwas verkehrt. Vollkommen verkehrt.
    Aber warum nur?

    Fortsetzung folgt.

  3. Barbara meint

    Ich glaube, jetzt geht es ans Eingemachte. Ich spüre es im Kopf, im Nacken, im Schultergürtel. Diese Verspannungen vor dem Sprung ins kalte Wasser. In ein kaltes Wasser wie vor einem Seminar, das ich noch nie gehalten habe, wie vor einer schwierigen Beratung oder vor einem unangenehmen Gespräch. Ich will, ich will nicht, doch ich will, nein, ich will weg … Ich kann es, ich kann es nicht, doch, ich kann es, nein, ich kann es nicht … Heute ist das kalte Wasser eine Idee. Seit dem Rettungsanker-Zyklus bei Milena produziere ich schreibend Puzzleteile. So nenne ich das. Textfragmente, die in sich nicht abgeschlossen sind, die zu einem grösse-ren Ganzen gehören, für das ich noch kein Bild habe. Die erste Produktionsphase habe ich im August des vergangenen Jahres unvollendet abgebrochen, seit dem 20. Januar entstehen wieder Fragmente. Mit neuen Figuren. Und gestern dann die Idee, wie die Teile in Verbindung treten könnten. Ein kurzer schreibender Versuch. Es könnte gehen. Es braucht weitere Versuche. Heute dieses Gefühl wie auf dem Fünfmeterbrett (von dem ich notabene als Kind nie gesprungen bin). Hanns-Josef Ortheil schreibt in seinem Aufsatz über die Panik vor dem Schreiben, dass sie eine „Furcht vor der Festlegung“ ist. „Was sich vorher noch luftig und in einem relativ lockeren Zustand im Kopf des Schreibers bewegte, wo es gut behütet war und von niemandem beobachtet werden konnte, nimmt plötzlich den Weg ins Freie und Öffentliche und wird damit sichtbar für alle“. Das Öffentliche ist es noch nicht. Aber ein Weg ins Freie. Vor meine Augen. Das ist anspruchsvoll genug. Für mich. Weil der Text sich durch diese Idee auch mehr mit mir verbindet. Danach suche ich seit einem Jahr. Und hatte wahrscheinlich Angst davor, es zu finden. Das Geschriebene zeigt etwas von mir. Ich will es sehen, nein, ich will es nicht sehen … Vielleicht ist jetzt plötzlich alles da und ich stehe an der Kante des Fünfmeterbretts? Und muss es einfach tun? Allen Mut zusammennehmen, die Nase zuhalten, die Augen schliessen, den Anspruch auf Eleganz auf dem Brett zurücklassen und einfach springen.

  4. Karin meint

    Hi Milena, neulich hatte ich ein Buch zur Reszension, das sehr lecker und vielversprechend klang. Einstein, eine unentdeckte Formel, ein Haufen Menschen die hinter ihr hersetzen, dirigiert von einem geheimnisvollen Typen im Hintergrund. Sogar einige, nicht unoriginelle, Morde. Auf Seite 100 dachte ich immer noch, das sollte doch jetzt super spannend sein. Warum zündet es nicht? Nach einigem Nachdenken kam ich dann drauf. Da hat niemand (es war ein Autorenteam) eine Geschichte erzählt, die unter den Nägeln brannte, sondern sich verdammt viele Gedanken gemacht, wie mensch einen Bestseller schreibt. Ich glaube nicht, dass es sich so planen lässt. Sicher gibt es den einen oder anderen Autor wo es funktioniert, aber da kommen sicher andere Faktoren zum Tragen. Was weiß ich auch nicht.
    Als Leserin will ich Geschichten lesen die echt sind. Wo Gefühl und Betroffenheit des Autors drinnen ist. Wenn es der 2. Weltkrieg ist, dann eben das. Wenn es einfach um eine Affäre auf dem letzten Weinfest geht, die zu Tage fördert, dass das vermeintlich so perfekte Leben, doch nicht so perfekt ist (gibt es so ein Buch, oder habe ich mir das gerade ausgedacht?), auch gut.
    Mich hat bis jetzt abgehalten irgend etwas an einen Verlag zu schicken, von meinem Schreiben, weil ich schon den Begriff „nicht marktrelevant“ kommen spüre. Das gibt die wunderbare Freiheit einfach drauf loszuschreiben und zu spielen. Denn wenn ich nicht von den Geschichten leben kann, die ich eigentlich gar nicht schreiben will, dann kann ich auch von denen nicht leben, die ich schreiben will.
    Vor ca. 9 Monaten habe ich den Literarischen Salon hier in Kiel gegründet. Einmal im Monat treffen sich dort Menschen zum Literatur Stammtisch. Dort findet Austausch übers Schreiben und Literatur im Allgemeinen statt. Einmal im Monat gibt es eine Lesung. Die Idee dahinter war, Menschen die gerne schreiben eine Möglichkeit zu geben, ihre Arbeit vorzustellen. Es sind so wundervolle Geschichten unterwegs, die nicht auf den Büchertischen zu finden sind, die sollen gehört werden. Und sie werden, immerhin kommen wir auf 20 Besucher im Monat.
    Alles Liebe Karin

    • Karin meint

      Hi Anke, ich bin Mitglied in einer Künstlergruppe, die unter anderem ein Café, ohne Cafébetrieb, als Veranstaltungsort hat, so wie einen kleinen Internetradiosender betreibt. Dadurch hatte ich natürlich das Glück die Räumlichkeit zu haben. Werbung ging über den Blog. literarischersalon.gaarden.net und über Flyer. Es wurde von Anfang an super angenommen und meine Angst nicht genügend AutorInnen zu finden war unbegründet.
      Einige der Lesungen sind als Podcast zu hören. Wenn es dich interessiert, schicke ich dir gerne die Links. Alles Liebe Karin

    • Karin meint

      Liebe Milena, aber gerne doch. Du hast recht mit den Spielwiesen, den eigenen. Je älter ich werde, um so bewusster wird mir das. Alles Liebe Karin

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