Danke.

images„Happy Thanksgiving!“ Heute an der Supermarktkasse. Die Frau vor mir faucht den Angestellten an: „Wie können Sie so etwas sagen? Haben Sie vielleicht vergessen, was wir den Indianern angetan haben?“ Das war auch meine erste Reaktion, als ich vor fast zwanzig Jahren mein erstes Thanksgiving in Amerika in Form eines Schultheaters erlebte. Fassungslos schaute ich zu, wie als Indianer und Pioniere verkleidete Kinder Maiskolben gegen Wolldecken tauschten und sich dann alle zusammen friedlich um einen Tisch setzten. Atemlos wartete ich darauf, dass die Hälfte der Kinder tot umfallen würde, mit roten Pusteln bedeckt. Doch nichts geschah. Die Pioniere bedankten sich artig bei den Indianern, und alle schüttelten sich die Hände. Das fand ich nun doch ein wenig zynisch. Die Thankgsviging-Feiern im privaten Rahmen habe ich hingegen schnell schätzen gelernt. Eine Dinnerparty, die mitten am Nachmittag beginnt und vor allem aus Beilagen und Kuchen besteht, weil der obligate Truthahn meist viel zu spät in den Ofen gesteckt wurde. Eine wild gemischte und ständig wachsende Gästeschar, die nie lange am liebevoll gedeckten Tisch sitzen bleibt. Ein riesiger Fernseher, auf dem irgendwelche Ballspiele gezeigt werden, die ich nicht verstehe. Aber mehr als alles andere liebe ich den Moment, wenn die Gäste erzählen, wofür sie besonderes dankbar sind. Gerade jetzt, in diesem Moment. Jedem fällt etwas ein. Vom kleinsten Kind bis zum Fremden. Von „Kürbiskuchen“ bis „krebsfrei“.  Wenn man einmal damit angefangen hat, kann man kaum mehr aufhören.

Danke.

Meinen Söhnen, einfach dafür, dass es sie gibt. Und den grossartigen Frauen, die diese meine Söhne lieben. Glücklich machen.

Danke, dass mich die Liebe nicht vergessen hat. Danke dem unbekannten Nierenspender dafür, dass Victor, der unwiderstehlichen Stehaufmann dafür, noch lebt. An dieser Stelle: Danke überhaupt jedem einzelnen Organspender.

Danke meinen Freundinnen, die mich über Weltmeere, Kontinente und Zeitzonen hinweg nicht allein lassen.

Aber vor allem und mehr denn je danke ich dem Schreiben. Das immer da war. Das mich immer zusammengehalten hat. Das Schreiben ist der rote Faden, der sich selbst durch die grössten Verwirrungen meines Lebens zieht. Und mir erst möglich macht, diese aufzuwickeln. Ich verstehe mein Leben nur, wenn ich es aufschreibe. Das Schreiben ist aber auch mein Fluchtmobil. Es entführt mich in Welten, in denen ich mich besser zurechtfinde. Es lässt mich in verschiedene Rollen schlüpfen wie in Fastnachtskostüme. Es erlaubt mir, neun Leben zu leben wie eine Katze.

Ich danke dem Schreiben vor allem dafür, dass es die tiefe Einsamkeit durchbrochen hat, die mir schon als kleines Kind schmerzhaft bewusst war. Wie eine dicke Glaschscheibe, die mich von den anderen trennte. Ich drückte mir die Nase platt an dieser Scheibe. Ich beobachte die anderen genau – und doch immer aus einer Distanz. Erst das Schreiben hat diese Glasscheibe zum Einstürzen gebracht. Mit jedem Wort, mit jedem Satz klopfte ich daran. Die Scheibe bekam Sprünge. Dann die erste veröffentlichte Geschichte. Der erste Leserbrief: So geht es mir auch. Genau so.

Wir sind nicht allein.

Danke dafür.

Über die neuesten Blogbeiträge informiert bleiben

  • Dieses Feld dient zur Validierung und sollte nicht verändert werden.

Leser-Interaktionen

8 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Horlacher meint

    Liebe Milena
    Wie schön, dieses Bild von der Glasscheibe, die Sprünge bekommt und schliesslich ganz auseinanderfällt – einzig und allein durch Wörter! Erst nur von innen, von deiner Seite, dann kommt Hilfe von aussen, in Form eines Leserbriefs, und irgendwann ist der Weg frei: Gemeinsam mit Wörtern freigeklopft – wie schön! Das macht Mut.
    Liebe Grüsse
    Regula

  2. Petra Weber-Schwenk meint

    Liebe Milena,

    ja, Happy Thanksgiving, und DANKE für diesen Text und auch für den Blog.
    Er ermutigt mich zum Schreiben und in Gedanken habe ich Dir (hoffe, die Anrede ist ok?) schon oft geantwortet. Jetzt also wirklich …Danke sagen heißt für mich, etwas zu würdigen und anzuerkennen, dass nichts selbstverständlich ist. Die
    Norddeutschen sagen oft als Antwort: dafür man nicht. Und ich sage immer, doch genau dafür.

  3. regenfrau meint

    Liebe Milena,
    auch wenn ich den Thanksgiving Day nur theoretisch (aus Büchern und Filmen) kenne, finde ich, dass die Dankbarkeit an sich etwas wunderschönes ist. Sie lenkt den Fokus auf die schönen, positiven Dinge im Leben und von denen gibt es mehr, als man manchmal glauben mag!
    In diesem Sinne: Danke für diesen Blogbeitrag! :)

An der Diskussion teilnehmen

Hier können Sie Ihren Kommentar schreiben. Ihre Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit * bezeichnet.