Erinnere dich.

Heute beginnt mein jährlicher Workshop in Santa Fe. Je weniger ich unterrichte, desto mehr freue ich mich darauf. In den letzten Wochen habe ich viel über meine Rolle nachgedacht: Bin ich Lehrerin? Vorbild? Kann man schreiben lehren oder „nur“ fördern? Das werde ich oft gefragt. Die Frage verwirrt mich. Kann nicht jeder schreiben? Das ist meine tiefste Überzeugung: Wer schreiben will, der kann. Ist es meine Aufgabe, diese Überzeugung zu teilen?

„Hebamme“, sage ich manchmal. „Ich bin eher Hebamme als Chirurgin.“ Oder ich phantasiere mich gleich zur Superheldin, die die sprichwörtlichen Schubladen aufbricht und all die ungeschriebenen, halb geschriebenen Geschichten befreit, die in ihnen vor sich hin moderen. Ich schwöre es, manchmal höre ich sie nachts wimmern: „Hol mich hier raus! Ich will hier raus! Ich will auf’s Papier!“ Nichts macht mich trauriger als von jemandem zu hören, der schreiben will, aber es nicht tut. „Das trau ich mir nicht zu.“ Oder, noch schlimmer: „Es wird schon genug geschrieben.“ Würde man auch sagen: „Es wird schon genug gesungen?“

Und dann fällt mir die Geschichte von Jambavan, dem König der Bären ein. Eigentlich ist es die Geschichte von Hanuman, dem Affengott. Ich habe diese Geschichte, wie viele andere aus diesem Zusammenhang in einem Yogastudio gehört. Sie wurde mir erzählt, um mir den verhassten Yogaspagat schmackhaft zu machen. Denn diese Übung, Hanumanasana, ist nach dem gewaltigen Luftsprung Hanumans benannt. Es ist eine sehr schöne Geschichte, ich hoffe, ich erzähle sie halbwegs richtig nach:  Der affengesichtige Halbgott Hanuman war mit allen möglichen Superkräften gesegnet. Ein hochbegabtes, unerträglich freches, arrogantes Kind, das ständig Unfug anstellte. Zum Beispiel hielt er die Sonne für eine besonders grosse, saftige Orange und ass sie auf. Er nervte die Götter dermassen, dass sie ihn schliesslich mit einem Fluch belegten. Vielleicht dem schlimmsten Fluch überhaupt: Er behielt seine aussergewöhnlichen Fähigkeiten, aber er vergass, dass er sie hatte.

Jahre später stand er im Dienste Ramas, als dessen Verlobte Sita entführt wurde. Hanuman versprach, sie zu befreien. Jambavan und sein Heer begleiteten ihn. die Prinzessin wurde auf der Insel Lanka gefangen gehalten. Hanuman hatte die Fähigkeit, vom indischen Festland auf die Insel zu springen und die Prinzessin zu befreien – aber er wusste das nicht. Er hatte Angst. Zaudernd stand er am Ufer. Da begann der Bärenkönig, ihm ein Lied zu singen. Strophe für Strophe erinnerte er Hanuman an seine Fähigkeiten.

Erinnere dich, wer du bist. Erinnere dich, was du kannst.

Und Hanuman sprang.

Manchmal denke ich, wir sind alle von Hanumans Fluch belegt. Wir vergessen, was wir können. Was uns glücklich macht. Singen, Tanzen, Schreiben, in Rollen schlüpfen, uns verkleiden, im Wald verstecken, unter der Bettdecke lesen, die Welt neu erfinden. Dinge, über die wir nie nachgedacht hatten, bis uns dieser Fluch traf. Und mitten im Luftsprung lahmlegte.

Moment mal, bist du sicher? Kannst du das? Wirklich? Und wenn du dich lächerlich machst? Was glaubst du denn, wer du bist?

Ja, wer?

Das ist meine Rolle. Ich bin die alte Bärenkönigin, die sagt: Erinnere dich, wer du bist. Erinnere dich, was du kannst,

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6 Kommentare

Kommentare

  1. Mirjam meint

    Liebe Milena Moser. Auch wenn ich noch nie an einem Schreibworkshop bei ihnen war, bin ich bereits immer wieder inspiriert und bestätigt durch das, was ich aus ihrer Feder lesen kann. Und es stimmt mich tröstlich, dass die Möglichkeit bestünde, einmal an einem Solchen teil zu nehmen. Wenn mal wieder alle Stricke reissen würden in meinem Leben. Dann könnte das ein Anker sein und das Schreiben danach meine Rettung. Herzlichen Dank für ihre Bücher und ihren Blog.

    • Milena Moser meint

      Liebe Mirjam
      genau so ist es auch für mich: Das Schreiben ist Anker und Rettung, Ablenkung und Unterhaltung, das Schreiben kann alles sein und das Gegenteil von allem. Wer weiss, vielleicht nächstes Jahr? Nicht dass ich Ihnen wünsche, dass alle Stricke reissen…

  2. Regula Horlacher meint

    Liebe Milena
    Eigentlich wollte ich heute Morgen um sechs, als ich, angeregt durch deinen Input, anfing über den Spagat zu schreiben, von etwas ganz anderem berichten, nämlich wie ich mich gewissermassen im Spagatschritt von einer Schreibinsel zur nächsten fortbewege: Von der Zweiter-Roman-Insel zur Aufzeichnungen-nach-dem Tod-meines-Vaters-Insel zur Notate-Insel, auf der ich mich im Moment befinde. Das Wasser dazwischen wäre dann der Unterschied oder Fortschritt, wenn man das so nennen will, der zwischen den Inseln besteht, bzw. den ich von einer Insel zur nächsten mache. Unterschied oder Fortschritt im Umgang mit der Sprache als Werkzeug zum Ausdrücken von Inhalt.

    Zur Arbeit mit Werkzeug könnte man unzählige Beispiele anbringen – ich habe mich für das Weben entschieden:
    Ich kann keinen Stoff weben, wenn ich mir nicht zumindest ein Karton zur Verfügung steht und Fäden. Ein weiteres Werkzeug brauche ich, um Löcher in den Karton zu bohren, am besten eine Nadel. Erst dann kann ich den Karton mit den Fäden bespannen und anschliessend andere Fäden in die Bespannung einziehen.
    Genauso kann ich nicht schreiben ohne Sprache, Wörter, Sätze. Sie sind das Werkzeug. Während ich mich schreibend mit dem Tod meines Vaters auseinandersetzte, ergab sich die Distanz durch die Beschäftigung mit dem „Werkzeug“, der Inhalt trat dadurch in den Hintergrund. So verarbeitete ich, was ich verarbeiten musste, fast ohne es zu merken. Beim Roman ging das nicht. Das war mir, bevor mein Vater starb, nicht aufgefallen, erst als ich nach seinem Tod aufschrieb, was ich erlebte und fühlte, wurde es mir bewusst: Der aus meinem eigenen Leben gegriffene Teil, den ich im Roman verarbeitete, war so schwerwiegend, dass er sich nicht durch das intensive Befassen mit der Sprache quasi überlisten liess. Was die Notate betrifft, wollte ich mich eigentlich viel mehr auf die Sprache konzentrieren, mich mittels der Sprache zwischen mich und den Alltag stellen – der Inhalt, so glaubte ich, spiele keine grosse Rolle: Kleine inszenierte Erlebnisse halt, nur dazu da, um sie in Worte zu fassen. Aber nun kann ich mich nicht davon abhalten, immer wieder ernsthafte Betrachtungen anzustellen, meine Meinung zu äussern, mir irgendetwas von der Seele zu schreiben – deshalb lasse ich es zu. Mich einzuengen ist nicht der Zweck dieses Projekts, der Rahmen, den ich mir gesteckt habe, muss meinem Schutz dienen, sobald er anfängt zum Selbstzweck zu werden, durchbreche ich ihn. Mir geht es darum, mich nicht von meinem gegenwärtigen Alltag vereinnahmen zu lassen, Platz zu schaffen. Nur darum – jeden Tag von neuem.

    Sicher hast du es schon gemerkt und bist stutzig geworden: Ja – es gab noch eine weitere Insel! Tatsächlich wäre der Abstand zwischen den Aufzeichnungen nach dem Tod meines Vaters und den Notaten selbst für sehr lange virtuelle Beine zu gross gewesen. Nachdem ich den siebten Teil meines Romans fertiggeschrieben hatte, wusste ich nicht weiter. Sieben Teile hatte ich nach der Wollknäuel-Methode schreiben können. Es war mühselig gewesen, je länger, desto mehr, aber immerhin möglich. Nun wäre der achte und letzte Teil an der Reihe gewesen, und es ging nicht! Es ging einfach nicht. Ich konnte mich nicht überwinden, das Thema anzugehen, das ich angehen musste, ich schob es vor mir her, schob und schob – bis sich endlich, zufällig und fast wie von selbst, eine Lösung ergab: Ich bekam die Gelegenheit den verbleibenden Rest meiner Geschichte jemandem zu erzählen. Ich schrieb jeden Tag ein Mail und sandte es an einen Freund. Und dieser Freund – ein lebender, wirklicher Freund, kein fiktiver – las es. Still und geduldig wie der Ofen im Märchen von der Gänsemagd hörte er mir einfach nur zu, bis ich alles erzählt hatte, was ich erzählen musste. So wurde der Roman schliesslich doch noch fertig, und ich war endlich bereit für etwas Neues, nämlich für die Notate-Insel, auf die ich mich unverzüglich mit einem Spagatschritt begab :-)
    Liebe Grüsse
    Regula

  3. Regula Horlacher meint

    Liebe Milena
    Das ist ja spannend! Zu deinem Input „Man muss die Geschichten feiern, wie sie fallen“ schreibe ich am 21. September: „Ich habe gemerkt, dass ich Schwieriges durch Schreiben nicht loswerde, sondern, dass es sich vertieft, einfrisst, mich gefangen nimmt.“, und gestern zu „Das Schicksal versuchen“: „Ich musste mit dem Tod meines Vaters fertigwerden, darum war es das Beste, ich fing jetzt einfach mal an, darüber zu schreiben, fand ich.“ – und ich hatte recht damit! Beides stimmt, dabei ist es doch das genaue Gegenteil!
    Das fiel mir auf, als ich gestern Abend meinen Kommentar einfügen wollte und dabei deinen gerade eben veröffentlichten neuen Input über den Yogaspagat und Hanumans Geschichte entdeckte: Erinnere dich, was du kannst!

    Ich kann den Spagat.

    Ich konnte ihn als kleines Mädchen, ich konnte ihn als junge Frau, ich konnte ihn mit vierzig und vermutlich könnte ich ihn auch heute noch, ich weiss es nur nicht, weil ich es schon lange nicht mehr ausprobiert habe. Praktisch, meine ich. Virtuell schon. Virtuell gelingt es mir offenbar, wie mir beim Lesen deines neuen Inputs bewusst wurde, im Spagat die verschiedenen Inseln meines Lebens miteinander zu verbinden! Und weisst du was? So viele Inseln auf einmal wie ich will!! Körperlich hat man nur zwei Beine zur Verfügung, virtuell so viele, wie man will. Oder braucht.

    Erinnere dich, wer du bist. Erinnere dich, was du kannst.
    Danke, kluge Bärenkönigin!

    Liebe Grüsse
    Regula

  4. regenfrau meint

    Liebe Milena,
    was ich aber nie vergessen werde, ist die Freude, die du ausstrahlst, wenn du in deinen Kursen übers Schreiben sprichst! Und wenn ich mal wieder glaube, keine Zeit, keine Ideen, kein Papier oder kein was-auch-immer zu haben, erinnere ich mich an deine Worte in der Schreibwerkstatt in Aarau, zucke mit den Schultern und beginne zu schreiben. Einfach so und nur für mich…

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