Ich bin Giò.

Gerade wollte ich noch einmal nachschauen, wie ich meine erste Nanowrimowoche überhaupt überlebt hatte. Da stellte ich fest, dass ich letzte Woche mein Tagebuch von 2005 gelöscht hatte. Wie, das ist mir schleierhaft. Das Dokument ist noch da, aber es hat keinen Inhalt mehr. Leider habe ich keine Zeit, dieses Rätsel zu lösen, denn ich hinke meinem Wortsoll wieder einmal gnadenlos hinterher. Aber das macht nichts. Denn Nanowrimo sei Dank bleibe ich dran. Trotz Installationen und Konzerten, Vernissagen und Finissagen, dem Aufbauen und Abbauen von Ausstellungen, trotz leider auch wieder Krankenpfleg und Arztbesuchen. Gegen meine Gewohnheit, gegen meine Überzeugung, am frühen Morgen am besten zu funktionieren, schreibe ich jetzt oft abends spät, wenn alles erledigt ist. Wenn ich eigentlich zu müde bin. Aber gerade dann kommen oft die erstaunlichsten Dinge aufs Papier. Ich stecke so tief in meiner Geschichte, dass ich meinen Sohn Lino schon Luigi nenne. Und ich stelle fest, dass Giò mehr mit mir zu tun hat als jede Romanfigur vor ihm. Da Giò ein Mann ist, wird das ja niemand merken… Ausser mir. Das Geschlecht zu ändern ist die einfachste und effizienteste Form der Verfremdung. Nur habe ich das nicht mit Absicht getan. Im Gegenteil, ich nahm mit zunehmendem Staunen und leichter Irrititation zur Kenntnis, dass sich in diese Geschichte fast nur Männer gedrängt haben. Männer und Jungen. Frauen und Mädchen tauchen nur am Rande auf. Hm, dachte ich. Okay, dachte ich. Das wird mir bestimmt genauso vorgeworfen werden wie der Frauenüberschuss in anderen Geschichten. Als ob ich einen Einfluss darauf hätte!

Erst jetzt, in diesem rasenden Zielgalopp wird mir klar: Giò bin ich. Madame Bovary, c’est moi.

Es klingelt an der Tür. Besuch. Ich entschuldige mich, verziehe mich in mein ungeheiztes Gartenhäuschen, schreibe in Handschuhen mit abgeschnittenen Fingern. Aber es ist nicht unbedingt leichter, in Santa Fe zu schreiben. Das Leben ist nun mal kein writer’s retreat, das Leben ist kein Werkjahr. Das haben auch die Teilnehmerinnen an meinem jährlichen Workshop gemerkt: Je näher diese Schreibwoche rückte, desto unerbittlicher schlug das Leben über ihnen zusammen. So geht es unweigerlich auch allen, die sich mit mir bei Nanowrimo angeldet haben. Es ist, als ob uns das Leben auf die Probe stellte: Willst du das wirklich? Meinst du es ernst?

Ja, ich will. Wirklich. Ich will es so sehr, dass andere Dinge zurücktreten müssen. Besucher. Das Telefon. Schlaf.

Ich verdränge auch Gedanken daran, wo ich vor einem Jahr um diese Zeit war: Allein in einem viel zu grossen Hotelzimmer in Atlanta verfolgte ich die Präsidentschaftswahlen auf meinem Telefon. Bis zuletzt wollte ich es nicht glauben. Konnte ich es nicht glauben. Ebensowenig wie ich es jetzt glauben kann, dass bereits in Jahr vergangen ist.

Es ist November. Ich schreibe.

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4 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Horlacher meint

    Liebe Milena
    Zuerst einmal: Danke! Danke für die Bestärkung! Ich schreibe auch oft abends spät, wenn alles erledigt ist. Und – Ja, ich will auch! Wirklich! Mehr als alles andere auf der ganzen Welt – noch nie in meinem Leben habe ich etwas ernster gemeint!

    Und doch wäre ich fast gescheitert. Ausgerechnet im November.

    Meine Mutter ist ins Altersheim gezogen, und jetzt muss ihr Haus geräumt werden. Ich muss mich damit befassen, dass sie definitiv ihren letzten Lebensabschnitt angetreten hat, und ihr Haus ist nicht irgendein Haus, es ist mein Elternhaus. Das ist keine einfache Situation, und beinahe hätte ich vor ihr kapituliert!
    „Es macht nichts, wenn ich gar nichts oder nur wenig schreibe an den Tagen, die ich im Haus meiner Mutter mit Räumen verbringe. Mein Drang, alles selber zu sortieren und zu ordnen, ist gross, und es geht mir am besten, wenn ich ihm nachgebe“, erteilte ich mir am 5. November, dem fünfundsechzigsten Tag meines „365-tägliche Notate“-Projekts, sozusagen selber die Absolution, während ich gleichzeitig das Gefühl hatte, als würde ich mein Liebstes verraten.
    Trotzdem schrieb ich noch einige Tage lang jeweils nur einen einzigen Satz, und auch den in erster Linie aus Pflichtgefühl, weil ich mein Projekt nicht gefährden wollte. Ich hatte ja nicht die Absicht, damit aufzuhören, sondern nur abzuwarten, bis ich wieder mehr Zeit und vor allem den Kopf freier hatte. Ich sichtete und sortierte die ganzen Tage und mir fiel einfach nichts ein, was ich zwischen mich und diese Tätigkeit hätte stellen können, um darüber zu schreiben – und so wurden mir einmal mehr meine eigenen Bedingungen zum Verhängnis, und wie immer dauerte es auch diesmal eine ganze Weile, bis ich das merkte: Ich hatte mir verboten, meinen Alltag zu schildern, weil ich mich nicht noch mehr von ihm vereinnahmen lassen wollte, als es ohnehin schon der Fall ist. Das war grundsätzlich sinnvoll, aber nun, in meiner jetzigen Situation, bewirkte dieses Verbot genau das, was ich hatte vermeiden wollen, weil mir die Kapazität fehlte, eigens etwas zu inszenieren, um darüber zu schreiben!
    An dem Abend, als ich mir dessen bewusst wurde, sass ich am Computer und suchte wie schon an den Abenden zuvor nach dem Pflichtsatz. Es war spät, ich hatte gerade noch Vorhänge aus dem Haus meiner Mutter in meinem Wohnzimmer aufgehängt, es sah toll aus und darüber freute ich mich sehr, aber ich war müde, und das Letzte, was ich jetzt wollte, war, mir etwas aus den Fingern zu saugen, nur damit ich es aufschreiben konnte …
    Ich weiss nicht, was mich ausgerechnet an jenem Abend dazu brachte, am Schreibtisch sitzen zu bleiben, anstatt meiner Müdigkeit nachzugeben und ins Bett zu gehen, aber jedenfalls fing ich, ohne weiter nachzudenken, ganz plötzlich an, irgendetwas über die Vorhänge zu schreiben und dann, als ich einmal damit begonnen hatte, hörte ich nicht mehr auf, bis sich die Sätze zu einem sauber formulierten, kleinen Text zusammengefügt hatten. Während ich schrieb, merkte ich, dass es gar nicht so sehr darauf ankam, was ich schrieb, es ging nur darum, dass ich mich damit beschäftigte, nach treffenden Wörter zu suchen, verständliche Sätze zu bilden, einen Inhalt auszudrücken. Irgendeinen Inhalt – denn der Inhalt war Nebensache. Hauptsache war – in diesem Fall und in diesem Moment – das Schreiben an sich!

    Ich wünsche dir weiterhin einen glücklichen Schreibnovember! Auf die Geschichte von Luigi, Giò und Co. warte ich gespannt.
    Ganz liebe Grüsse
    Regula

  2. Andrea meint

    Liebe Milena,
    das tröstet mich – ich hänge auch heillos zurück, aber Dank Nanowrimo mache ich tapfer weiter ????
    Liebe Grüße von Andrea

  3. regenfrau meint

    Liebe Milena,
    ganz ehrlich, ich habe mir den NaNoWriMo nicht so anstrengend vorgestellt. Jeden Tag schreiben? Kein Problem. Ok, „etwas“ mehr, als ich gewohnt bin, aber das wird schon gehen….
    Tja. Der Donnerstag ist eindeutig mein schwächster Schreibtag, aber auch ihn habe ich nun schon zum 2. Mal (mit viel zu wenig Wörtern) hinter mich gebracht. Dh. ich habe jetzt wieder sechs Tage vor mir, um aufzuholen!

    Ich finde es so spannend, hier immer wieder mal von Luigi etwas zu lesen. Ich hoffe es geht ihm gut und wünsche ihm weiterhin viele Schreibstunden, damit er sich in seiner Geschichte wohl fühlt! :)

    • Milena Moser meint

      Geht mir genauso! Und nicht nur mir, wie das Nanomail von heute beweist: „We know that Week Two is where the writing stops being polite and starts getting real… Real challenging, that is.“ …
      Wenn ich es mir recht überlege, gilt das auch für Luigi, oder meine Beziehung zu ihm. Die wird auch langsam „real challenging“…

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