Das Schicksal versuchen.

ameliaangell-2009072522209-cddc_1-originalDer Morgen war noch frisch, später würde es wieder heiss werden. Ich trug meinen Laptop, einen Stapel alter Life-Magazine aus den 40er Jahren und eine halbvolle Kaffeetasse zu meinem blauen Schreibschuppen ganz hinten in Victors Garten. Jedesmal, wenn ich mich durch das wuchernde Grün kämpfe, kommt es mir vor, als würde ich eine andere Welt betreten, nicht nur symbolisch – die Welt meines Romans – sondern ganz real: Zuhinterst in diesem wilden Garten, weit weg von Internet und Telefonanschluss, umgeben von wucherndem Grün, unterbrochen nur von Eichhörnchen und der sie jagenden Katze, gibt es nichts anderes mehr als mein Schreiben.

Victor war bereits im Atelier. Ich winkte ihm durch das Atelierfenster zu, er sah mich nicht, vertieft in seine Malerei. So wie ich wenig später in mein Schreiben versinken würde. Ich blieb stehen. Ich hielt den Atem an. Behalte diesen Moment, dachte ich. Diesen perfekten Moment.

Ich hatte es mir so sehr gewünscht, all das: Eine letzte grosse Liebe. Zeit zum Schreiben zu haben. Meine Wünsche haben sich erfüllt, mehr als erfüllt. Wie ist das möglich? Habe ich das verdient? Darf ich das? Glücklich sein?

Vor ein paar Wochen wurde in Santa Fe der Zozobra verbrannt, die verkörperte Düsterkeit. Während die Figur gebaut wird, kann man in der Werktatt vorbeigehen und seine eigenen Sorgen und Nöte, sauber auf Papier festgehalten, in die Statue einbauchen lassen. Was fär eine tolle Idee, dachte ich, das mache ich! Doch dann – fiel mir nichts ein. Natürloich mache ich mir Sorgen um Victors Gesundheit und das allgemeine Glück meiner Kinder. Aber so richtige, tiefe, eigene Sorgen? Wo war dieses lebenslange Gefühl des Nicht-Genügens, des Falsch-Seins, des Nicht-Dazugehörens? Wo war diese tief in mir eingebrannte Scham?

„Das Einzige, was mit Ihnen nicht stimmt, ist Ihre feste Überzeugung, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt“, sagte mein Lieblingstherapeut einmal zu mir. Damals dachte ich, so gut könne er nun doch nicht sein, wenn er das nicht erkenne, dieses Grundverkehrte an mir. Schliesslich spürte ich das seit ich denken konnte. Seit ich Erinnerungen hatte, waren sie von diesem Unwohlsein durchdrungen. Und jetzt, im letzten Drittel meines Lebens – ist dieses Gefühl verschwunden. Dieses Gefühl, das ebenso zu mir gehörte wie meine Locken und meine grossen Füsse. Wie bin ich es losgeworden? Langsam, stetig, fast unmerklich. Therapie, Meditation, Freundinnen und Rotwein. Wie auch immer. Dieses Gefühl, das mich bis ins Mark definierte: Es ist weg. Mein Leben hat sich geöffnet wie Blume, es ist voller Freude, voller Möglichkeiten.

Ja, natürlich habe ich hart dafür gearbeitet, einen hohen Preis dafür bezahlt. Doch das ist nicht wichtig. Ich habe das Schicksal versucht. Im wörtlichen Sinn, im besten. „Ist da noch was?“, habe ich gefragt. „Hast du eventuell vielleicht noch etwas anderes für mich auf Lager? Wartest du nur darauf, dass ich den Atem anhalte und springe?“

Zwei Tage später konnte Victor den rechten Arm nicht mehr heben und mein Computer hatte seinen inneren Psychedeliker entdeckt. Statt eines schwarz-auf-weissen Romanmanuskriptes präsentierte er mir nun flimmernde Streifen in den wildesten Farben. Das Leben bleibt nicht stehen, nur weil man einmal den Atem anhält.

Doch ich habe diesen Moment. Ich habe ihn behalten.

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5 Kommentare

Kommentare

  1. korinna baer meint

    Guten Morgen Frau Milena Moser
    Kann man um diese Zeit bereits guten Morgen sagen oder wäre gute Mitternachnacht treffender?
    Egal, ich fühle mich gerade sowieso zwischen zwei Welten: Der der noch Lebenden und der der bald Toten. Ich bin in einer tiefen Krise. Und es ist nicht die erste, auch nicht die zweite, die dritte nicht und weder die vierte noch die fünfte. Wahrscheinlich die 1000 und immer eine mehr.
    Blau, Berge … wie liiiebe ich dieses Buch von Ihnen! Eben erst fertig gelesen. Buch, Milena sei Dank – oder umgekehrt. So genau kann ich es nicht sagen, gehört doch beides untrennlich zusammen.
    Ich bin zweiundsechzig ….. einsam, verzweifelt, traurig und müüüde. Das Schicksal beutelt mich zum x-ten Mal. Bisher hatte ich die Kraft mich dagegen zu wehren, hinzuschauen und an mir zu arbeiten …. Jetzt gerade mag ich nicht mehr und sollte doch dringend. „Wir sind nicht allein“, schreiben Sie. Was, wenn ich das nicht fühlen kann?
    Diese nächtlichen Zeilen sind mir einfach eingefallen, ebenso ist mir diese Möglichkeit hier zu schreiben zugefallen. Aus Not und auf der Suche, dem WillenWollenHimmel HilfMirSchrei habe ich nach dem Fertiglesen ihres blauen Wunderbuches mitts in der Nacht ihre Homepage besucht …. und bin, wie zu sehen hier gelandet.
    Vielleicht geht mein Gespräch mit Ihnen als Abwesende weiter oder es gibt plötzlich eine Anwesenheit. Ich weiss es nicht.
    Wenn ich so schreibe wie jetzt merke ich, dass ich mit mir rede. Und das ist ja auch schon mehr als nur mit mir zu schweigen.
    Herzlich. Alles Gute Ihnen! KB.

    • Milena Moser meint

      Liebe KB – das ist genau, was schreiben ist: Mehr als nur mit sich selbst zu reden. Wunderbar gesagt, danke dafür! Und ja, wir sind nicht allein. Wenn ich Ihre Zeilen lese, weiss ich genau, was Sie meinen. Das ist die Stunde des Wolfs, die dunkelste vor dem Sonnenaufgang.

  2. Regula Horlacher meint

    Manchmal trifft etwas ein, das ist so erschütternd, so unbegreiflich, so unglaublich, so existenziell bedrohlich, dass man das Gefühl hat zu ersticken, unterzugehen – dass ich das Gefühl habe zu ersticken, unterzugehen.
    Wenn der Weg frei zu sein schien, wenn nichts auf ein Hindernis welcher Art auch immer hinwies und sich plötzlich etwas einstellt, womit man so sehr nicht gerechnet hat, dass es einen trifft wie ein Schuss in den Rücken – dann fällt man buchstäblich aus allen sprichwörtlichen Wolken, obwohl man sich eigentlich überhaupt nicht auf solchen befunden hat, sondern auf einem ganz gewöhnlichen Weg, wenn auch möglicherweise auf einem aussergewöhnlich vielversprechenden.

    Grundsätzlich bin ich ein wachsamer Mensch. Vielleicht, weil ich in einem früheren Leben einmal ein Tier war, dessen einzige Möglichkeit, sich zu verteidigen, im Vorbeugen durch Wachsamkeit lag: ein Reh, ein Feldhase oder eine Ente. Eva Menasse stellt ihrer Erzählung „Enten“ einen kurzen Text über die Fähigkeit von Enten voran, nur mit einem Auge zu schlafen, während das andere indessen samt dazugehöriger Gehirnhälfte „Wache hält“, wie sie schreibt. So ungefähr meine ich das – und ich bin mit dieser Methode bisher ganz gut gefahren. Normalerweise checke ich also meine Möglichkeiten, bevor ich mich in Erwartungen versteige, und danach passe ich die Erwartungen diesen an. Normalerweise – manchmal funktioniert das nämlich nicht, und dann stehe ich, wie oben erwähnt, völlig überraschend vor einem riesigen Klotz, von dem ich keine Ahnung habe, wie ich ihn aus dem Weg schaffen oder auch nur umgehen könnte. Ich nehme an, wenn das passiert, hat es mit einem blinden Fleck zu tun oder mit blindem Vertrauen – jedenfalls ist es fatal.

    Als mich während meines Aufenthalts in Berlin im Frühjahr 2015 die Nachricht vom Tod meines Vaters erreichte – sie kam nicht unerwartet, erschütterte mich aber trotzdem sehr – hatte ich an einem der Morgen, die mir blieben, bevor ich zur Beerdigung nach Hause zurückkehren musste, einen Traum, der mich so nachhaltig beeindruckte, dass ich mich immer noch ganz genau an ihn erinnere. Es war eine Art Trickfilm: Vor einem leicht ins Orange tendierenden, nebelhaften roten Hintergrund standen verschieden grosse, dunkelgraue Steinstelen – die gleichen wie die, aus denen sich das Holocaust-Mahnmal in Berlin zusammensetzt. Ich kannte das Mahnmal von meinen beiden früheren – kürzeren – Aufenthalten her bereits, aber erst diesmal hatte sich mir seine ungeheure Wirkung ganz erschlossen, vielleicht war ich ja auch wegen des nahenden Todes meines Vaters besonders offen dafür, ich weiss es nicht. Auf jeden Fall vermied ich es möglichst, mich in der Nähe des Mahnmals aufzuhalten, nachdem ich mir seiner starken, beklemmenden Wirkung auf mich bewusst geworden war. Doch dann träumte ich von den Stelen, und da wusste ich, dass ich nicht länger ausweichen durfte, ich musste mich ihnen stellen. Ich musste lernen, mit ihnen umzugehen. Natürlich machte mich das unsicher und ängstlich, weil ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wie ich es anpacken sollte. Da erschien auf einmal ein kleines, feines Strichmännchen, legte seine beiden zierlichen Händchen an eine der Stelen und schob sie beinahe tänzerisch mit sanftem Schwung zur Seite, so dass es aussah, als hätte sie kaum Gewicht. Das beruhigte mich: Nun wusste ich, dass es möglich war, mit diesen Stelen fertigzuwerden. Ich hatte zwar immer noch keine Ahnung wie, aber das musste mich nicht kümmern: Ich war zuversichtlich, dass es sich zeigen würde, sobald es nötig wurde – und das tat es auch.
    Ich war Anfang Januar 2015 für drei Monate nach Berlin gefahren, um an meinem zweiten Roman zu arbeiten, und ich hatte mir fest vorgenommen, mich durch nichts anderes davon ablenken zu lassen. Daran hielt ich mich weitgehend, ich schrieb ausser am Roman lediglich ab und zu ein Mail. Mit meinen Angehörigen hielt ich den Kontakt per Telefon und mit Postkarten. Erst als ich wegen der Beerdigung nach Hause musste, begann ich mit tagebuchartigen Aufzeichnungen.
    Ich hatte meine Einzimmer-Wohnung für die drei Monate meiner Tochter zur Verfügung gestellt. Es war nicht vorgesehen gewesen, dass ich meinen Aufenthalt wegen der Verschlechterung des Zustands meines Vaters und seinem Tod zweimal würde unterbrechen müssen, und wir also zu zweit in der kleinen Wohnung hausen müssten, aber meine Tochter hatte gerade ihren Bachelor hinter sich gebracht und machte nun ein Praktikum in Zürich. Deshalb war sie den ganzen Tag abwesend, und so kamen wir gut aneinander vorbei. Sie hatte die Wohnung nach ihrem Gutdünken umgestellt, ich hatte kaum Zugang zu meinen Sachen, ich lebte aus dem Koffer, und das war auch gut so: Ich war vorübergehend da, nur zu Besuch, ich würde wieder gehen – die Fremdheit meiner Wohnung machte das auch äusserlich deutlich.

    Am Morgen nach meiner Ankunft erwachte ich früh, weil meine Tochter aufstehen und sich für die Arbeit bereitmachen musste. Ich stand auf, wir frühstückten zusammen, und als sie weg war, wurde mir plötzlich etwas bewusst: Niemand ausser ihr wusste dass ich hier war! Ich hatte meine genaue Ankunftszeit niemandem mitgeteilt, nicht einmal den Tag. Ich wollte meine Mutter anrufen und mich für den Nachmittag bei ihr anmelden, aber dafür war es noch viel zu früh: Ich hatte drei Stunden Zeit! Drei Stunden, in denen mich niemand da vermutete, wo ich war! Ich räumte die Sachen meiner Tochter von meinem Schreibtisch und installierte den Laptop. Ich musste mit dem Tod meines Vaters fertigwerden, darum war es das Beste, ich fing jetzt einfach mal an, darüber zu schreiben, fand ich. Ich würde aufzeichnen, was ich erlebte und fühlte, ein Protokoll erstellen, gewissermassen. Und dann hatte ich die zweite Erleuchtung an diesem Morgen! Die Beschäftigung mit den Worten, das Bilden der Sätze, die Suche nach dem treffenden Ausdruck, der das, was ich schrieb, auch für einen allfälligen Leser verstehbar machte, tat mir gut! Dadurch, dass ich mich solange mit jedem einzelnen Satz befasste, bis er genau das wiedergab, was ich meinte, bekam ich Distanz zum Geschehen! Sprache, Wörter, Sätze, das waren die Zauberwörter, mit denen ich das Bedrohliche der Situation bannen konnte! Schreiben! Ich musste nur schreiben. Immer weiter schreiben.

  3. Jutta Wilke meint

    Liebe Milena,

    dein Post hat mich sehr berührt. Ich möchte viel dazu schreiben, muss das aber verschieben, weil ich mitten im Deadlinestress bin und nur noch zwei Tage habe.
    Aber eine Frage brennt mir auf der Seele: Wie geht es Victor?

    Liebe Grüße, viel Kraft und Gesundheit euch beiden.
    Jutta

    • Milena Moser meint

      @Jutta: Danke der Nachfrage, im Moment geht es ihm überraschend gut, er arbeitet härter als wir anderen Installationshelfer zusammen! Das sehe ich immer wieder: so ein kreativer Schub lässt einen alles andere vergessen. In diesem Sinne wünsche ich einen guten Deadlinestress!

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