Man muss die Geschichten feiern, wie sie fallen.

„Nie wieder,“ stöhnte der Mann theatralisch und viel zu laut in sein Telefon. „Nie wieder fliege ich nach Santa Fe! Es war ein ab-so-luter Albtraum!“

Das fand ich nun nicht, aber ich drehte mich nicht um. In Santa Fe und Umgebung werden viele Filme und Fernsehserien gedreht. Wir sind uns gewohnt, beim Einkaufen über Filmstars zu stolpern und von ungeduldigen „Hollywood Typen“ angerempelt zu werden. Oder eben, ihre wahnsinnig wichtigen Telefongespräche mitanzuhören. „Denzel war gar nicht begeistert“, habe ich neulich an der Supermarktkasse gehört. „Ich weiss nicht, ob Leo das mitmacht“, an der Tankstelle. Wir tun so, als sei das ganz normal. Wir drehen uns gar nicht erst um. Doch dieser Hollywood-Typ jammerte so laut und ohne Luft zu holen, dass ich mich fragte, ob am anderen Ende wirklich jemand dran war. Denzel? Leo?

„Diese Wahnsinnige hat während des ganzen Fluges gelabert! Es war un-er-träg-lich! Solche Leute sollte man einsperren!“ Jetzt drehte ich mich doch um, fassungslos, denn ich wusste genau, wen er meinte. Sie hatte direkt hinter mir gesessen. Sie musste also vor oder hinter ihm in der Schlange stehen, die zum Ausgang drängte. Und sie konnte ihn – und seine Drohungen – sehr gut hören.

OK, ja, sie hatte während des ganzen Fluges ziemlich laut auf ihren Sitznachbarn, einen freundlichen älteren Herrn, eingeredet. Und ja, auch ich kannte jetzt ihre ganze Lebensgeschichte: Sie war auf dem Weg zum Mann ihres Lebens, den sie allerdings noch kaum kannte. „Drei Dates! Ist das nicht verrückt? Doch wenn es stimmt, stimmt es einfach!“ Und so würden sie zu seinen Eltern fahren, die irgendwo in Colorado eine militant christliche Kirche leiteten. Pfarrer und Pfarresfrau. „Und jetzt kriegen sie eine jüdische Hippie-Schwiegertochter aus Berkeley! Wow! Und, wenn alles gut geht, ein Enkelkind!“ Denn offenbar hatte sie immerhin genügend Zeit mit dem Mann verbracht, um von ihm schwanger zu sein. Oder es wenigestens hoffen zu können. „Alle sagen, in meinem Alter geht das nicht mehr, das Kind wird drei Köpfe haben, aber da hör ich einfach nicht hin!“

Dann bot sie ihrem Sitznachbarn an, eine Frau für seinen unverheirateten Sohn zu finden. Sie kenne schliesslich genügend alleinstehende Frauen. „Wir müssen auch Ihnen Enkel besorgen! Warum sollen Sie leer ausgehen?“ Der Mann hatte schon länger nichts mehr gesagt. Aber sie liess sich nicht beirren: „Mir gelingt im Moment einfach alles“, rief sie. „Ich bin die Königin des Manifestierens. Ich bin ein Einhorn!“

Ich hatte mir während des ganzen Fluges Notizen gemacht. Diese Szene fügte sich nahtlos in meinen Roman ein. So ist es, wenn man intensiv schreibt: Die Aussenwelt arrangiert sich freundlicherweise so, dass sie die Entwicklung der Geschichte unterstützt. Aber das schien der Hollywood-Typ nicht zu wissen. Er war wohl nicht in der Geschichten-Abteilung tätig.

Dann wurden die Türen geöffnet, eine Treppe herangeschoben, wie in einem alten Film traten wir die paar Stufen hinunter auf den heissen Asphalt. Wir hoben unser Gepäck auf  und gingen die paar Schritte zum sehr kleinen Flughafengebäude hinüber. Ich konnte es nicht lassen, ich verfolgte die Frau bis auf den Parkplatz hinaus. Ich beobachtete, wie sich einem sehr grossen, dünnen Mann an den Hals warf, sich wie ein kleines Äffchen an ihn klammerte. Ungerührt tätschelte er ihr mit einer Hand die Schulter, während er mit der anderen an seinem Telefon herumfummelte.

Einer geschenkten Geschichte schaut man nicht ins… Gesichte, dachte ich.

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7 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Horlacher meint

    Liebe Milena
    Ich habe ein neues Projekt! Es heisst „365 tägliche Notate“.
    Ich habe gemerkt, dass ich Schwieriges durch Schreiben nicht loswerde, sondern, dass es sich vertieft, einfrisst, mich gefangen nimmt. Während der Arbeit an meinem zweiten Buch ergab sich nur ein einziges Mal ein Schreibfluss in deinem Sinn! Damals, ganz zu Beginn meiner Auszeit im August 2013, als du mir rietest, mir mehr Freiheit zu lassen und noch einmal anzufangen – da schrieb ich den ganzen ersten Teil in einem Zug. Mir kam es vor, als würde ich von irgendwo hoch oben ein Wollbällchen von mir werfen, so dass sich der ganze Faden abrollte und ich nur zuzuschauen und aufzuschreiben brauchte – aber damit hatte sich‘s dann auch schon. Natürlich war ich froh, die „Form“ gefunden zu haben, in der ich meine Geschichte erzählen konnte – mir war sofort klar, dass dafür keine andere in Frage kam – und ich warf in der Folge noch weitere sechs Wollbällchen in die Tiefe, von denen sich aber keins mehr so leicht abwickeln liess, im Gegenteil, das Wollzeug war verhakt und verklebt, wie allzu lang in der Vorratskiste aufgespartes Mohair, und manchmal auch mottenzerfressen, so dass der Faden immer wieder abbrach und ich gewissermassen von meinem erhöhten Posten herunterklettern musste, um das Bällchen suchen zu gehen, damit ich es erneut von mir werfen konnte – so oft, bis ich sicher wusste, dass der betreffende Teil endgültig abgeschlossen war. Dass ich jetzt von diesen Anstrengungen erzähle, heisst aber auf keinen Fall, dass ich mein zweites Buch nicht geschrieben haben möchte, ich musste es schreiben, ich hätte sonst keine Ruhe gefunden, und ich bin stolz darauf, dass ich tatsächlich bis zum Schluss durchgehalten habe! Und dankbar für jede Hilfe, selbstverständlich, so etwas schafft man ja nicht allein –
    Aber nun ist sie fertiggeschrieben, diese aus meinem eigenen Leben gegriffene Geschichte! Ich habe sie ausgedruckt und dreifach abgespeichert und in einer stabilen Kartonschachtel wohlversorgt – und darum ist jetzt in meinem Kopf endlich Platz für etwas Neues. Etwas, das nicht mehr das eigene Leben zum Thema zum macht – oder doch schon, aber nicht das, was ohnehin passiert, den Alltag, den täglichen Zwang, die Mühsal – und nein, auch nicht das, was man jedem Tag an Positivem, Erfreulichem, Schönem abgewinnen kann, einfach so, wenn man die Augen offen hält, ich meine nicht das „Trotzdem“! Mir geht es darum, bewusst etwas dazwischen zu stellen, zwischen das, was sowieso abläuft, oder was ich sowieso muss und mich selbst, etwas Zusätzliches: Ein tägliches, selbstgewähltes, eigens kreiertes Erlebnis, auf das ich mich dann schreibend konzentriere und so das Alltägliche mit leichter Hand vom Zentrum meines Blickfelds an dessen Rand schiebe, damit mich besser damit abfinden kann. Ja, abfinden. Irgendwann muss man es gut sein lassen mit dem Leben, und genau das habe ich mit diesem 365-tägliche-Notate-Projekt im Sinn: Ich lasse das Leben so wie es ist und erfinde mir dazwischenschreibend einen gangbaren Weg. Und das lässt sich gut an, sehr gut – heute ist schon der zwanzigste Tag! Im Voraus war ich mir nicht recht sicher über die Form der Notate – ob ich mir Einschränkungen auferlegen sollte, und wenn ja, was für welche: Mussten die Notate immer gleich sein, zum Beispiel eine Art von Postkartentexten – ich konnte mir unter diesen Erlebnissen, die ich mir da zu kreieren auferlegt hatte, noch nicht wirklich etwas vorstellen, und dachte vorerst mal vor allem an kleine Ausflüge in die Umgebung, zum Oppenheimbrunnen auf dem Waisenhausplatz, in den Bärengraben und Ähnliches. Aber dann beschloss ich, einfach mal anzufangen. Einzige Bedingung: Die Notate mussten an dem Tag fertiggeschrieben werden, an dem das Erlebnis stattgefunden hatte – ich musste mich also darauf einlassen, Unperfektes, möglicherweise Verworrenes so stehenzulassen, wie es am Ende des Tages war. Natürlich wusste ich, dass mir das schwerfallen würde, und ich legte deshalb als eine Form „Mails an einen fiktiven Freund“ fest. Dieser Freund würde mir als Klagemauer dienen können, wenn ich damit haderte, dass mir am Vortag das Notat misslungen war. Mittlerweile habe ich „ihm“ aber auch schon „Mails“ geschrieben, um mit ihm etwas besonders Schönes oder Beeindruckendes zu teilen. Weiter wollte ich mich an meinen Arbeitstagen im Altersheim nicht mit einem selbstauferlegten Schreibzwang belasten, und entschied, dass ich an diesen Tagen die Form des Haikus verwenden würde – was mir, wie sich inzwischen bereits erwiesen hat, grossen Spass macht.
    Tja – mir sind von deinem Input zwei Sätze besonders ins Auge gesprungen, als ich ihn vor ein paar Tagen zum ersten Mal las: Dass du dir während des Flugs die ganze Zeit Notizen machtest, und „So ist es, wenn man intensiv schreibt.“ Ich schreibe zwar keinen Roman, in den sich etwas einfügen lässt, was sich gerade in meiner Umgebung abspielt, aber dieses „Intensive Schreiben“, erlebe ich im Moment so intensiv wie noch nie! Sobald ich auf „Erlebnistour“ gehe, beginne ich im Kopf zu schreiben, und sehr bald nehme ich dann jeweils auch das Notizbuch hervor und notiere vorzu alles, was mir irgendwie relevant erscheint –
    Erleben und Schreiben in Echtzeit ist das, und weisst du was? Ich glaube, genau das strebe ich mit diesen Notaten auch an!
    Ich habe nicht geplant, dass mein heutiges Erlebnis das nochmalige Lesen deines neuesten Blog-Inputs ist und mein Notat ein Kommentar dazu, und erst recht nicht, dass sich daraus möglicherweise eine weitere „Form“ ergeben könnte, ich plane nichts im Voraus, immer erst am entsprechenden Morgen, jeder Tag ist neu – aber dass es so gekommen ist, freut mich jetzt schon sehr!!
    Ganz herzlichen Dank und liebe Grüsse
    Regula

    • Milena Moser meint

      @ Regula: Das klingt extrem spannend!! Mit dem „intensiven Schreiben“ meinte ich diese Phase, in der du nicht mehr nur mit einem Fuss in deiner Geschichte stehst. Eher umgekehrt, du hältst dich nur mit einem Fuss noch in der songenannten Realität fest. Und die Welt ausserhalb deines Schreibtisches scheint sich nahtlos in deine Geschichte einzufügen: Vom Regenmantel einer Passantin über aufgeschnappte Gesprächsfetzen bis hin zum Wetter….

  2. regenfrau meint

    Liebe Milena,
    ach wie schön du das beschreibst.
    Was für den einen ein Ärgernis oder gar ein Grund für eine Haftstrafe ist, ist für die andere eine spannende Geschichte. Und auch wenn ich grundsätzlich sehr meine Ruhe auf Reisen schätze, sind es doch solche Ereignisse, die eine Zugfahrt oder einen Flug besonders machen.

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