„Das Gleiche sieht immer anders aus.“

Die zweite Lesereise ist zu Ende und alles war super. Nur ich nicht. Ich war einfach nicht zufrieden – mit mir. OK. Das ist an sich nichts Neues. Ein uraltes Muster, das immer wieder mal auftaucht. Wie ein lästiger, entfernter Verwandter der uneingeladen die schönste Feier verdirbt mit seinen blöden Sprüchen, seinem penetranten Körpergeruch, seinen unangebrachten Anspielungen. Die Reise war auf meinen ausdrücklichen Wunsch recht straff organisiert worden. Ich mache das ja gerne, dachte ich. Und ausruhen kann ich mich später wieder, in meiner Casita. Die erste Veranstaltung fand bereits am Abend nach meiner Ankunft statt. Jetlag? Keine Zeit! Doch nach der vierten oder fünften Lesung, nach der ersten Zugfahrt nach Deutschland, war ich bereits vollkommen erschöpft. Und prompt fing dieser lästige alte Verwandte an zu maulen: „Wie, du machst  jetzt schon schlapp? Solltest du das nicht easy hinkriegen? Früher konntest du doch auch…. du wirst wohl langsam alt?“ Und dabei dachte ich wirklich, ich hätte ihn abgeschüttelt, diesen alten Pöbler! Neues Leben, neue Muster – oder etwa icht? Hatte ich wieder mal das Kleingedruckte nicht gelesen? Als ich dann in Frankfurt wieder mal in den falschen Zug stieg, Richtung Hamburg-Altona statt Zürich, konnte er kaum mehr an sich halten. „Na Bravo!! Eine Stunde zu früh am Bahnhof, und dann das!“ Aber jetzt stellte sich heraus, dass sich doch etwas entscheidend verändert hatte. Die Stimme mochte dieselbe sein, ihre Wirkung war es nicht mehr. So einfach liess ich mich nicht mehr einschüchtern.

„So what“, sagte ich. Stieg aus dem falschen Zug, wartete auf den richtigen. Ziemlich lange. Aber während ich wartete, dachte ich nicht länger über meine Fehlleistung nach oder über die entstandene Verzögerung, sondern liess die letzten Abende noch einmal Revue passieren. Und die schönen Momente legten sich wie ein Schalldämpfer über die alte Nörglerstimme. Wen ausser ihm interessierte es schon, dass ich schneller müde wurde als früher? Niemanden. Denn es war eine ausnehmend schöne Reise. Vom Literaturhaus zum Möbelgeschäft, vom Bodenseeschiff zur Gemeindebibliothek. Zuvorkommende Veranstalter, wenn auch manchmal von meiner Trinkfähigkeit enttäuscht. („Mit dem Soundso haben wir bis morgens um sechs durchgemacht und ihn dann direkt zum Zug gebracht!“) Das Schönste aber war das Gefühl der Verbundenheit mit dem Publikum, das sich an all diesen unterschiedlichen Orten immer wieder einstellte. Die Geschichten, die mir erzählt wurden. Die Bestätigung, dass wir zwar ganz unterschiedliche Leben leben, am Ende aber doch dasselbe wollen. Wir wollen unser Leben leben, wie es uns entspricht. Geliebt werden, so wie wir sind. Wir wollen glücklich sein. (Und von alten Nörgelstimmen verschont bleiben.)
Meine Lieblingsfrage aus dem Publikum: „Das war doch nicht etwa die dicke Tatjana aus dem Reitstall So-und-so, die Sie abgeworfen hat? Wie konnte denn das passieren? Die war doch total zahm, fast schon träge!“  (Das konnte ich auch nicht erklären, aber wir tauschten uns dann noch eine Weile über die anderen Schulpferde aus, deren Namen ich längst vergessen hatte.“Der Orloff! Wenn der Sie abgeworfen hätte, hätte mich das nicht erstaunt!“)

Und der schönste Versprecher während einer Einführung: „… auch in ihrem letzten Buch, Das Gleiche sieht immer anders aus …“

Wunderbar. „Das Gleiche sieht immer anders aus!“ Ich drehte mich zu dem alten Nörgler um, der wie immer schräg hinter mir stand und zischte: „Damit bist du gemeint!“ Denn das Gleiche mag wohl das Gleiche bleiben, aber es sieht nicht nur anders aus, es riecht anders, schmeckt anders, fühlt sich anders an. „Dann halt“, knurrte er. Und war weg.

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Leser-Interaktionen

6 Kommentare

Kommentare

  1. Gabriela meint

    Liebe Milena
    Ich hab leider deine Leserreise verpasst und du warst so nah in Zeglingen BL. Ich finde es toll, wie du deinen Weg gegangen bist, dein Buch hat mich sehr berührt, wie du sehr offen über deine Zweifel, Gedanken schreibst. Ich wünsche dir weiterhin alles Liebe und mir hilft es, wenn die Nörgelstimme kommt, dass ich sie in Gedanken kurz in den Arm nehme als Teil von mir, dann aber loslasse und mich am schönen erfreue. Eine gute Zeit, Gaby

  2. regenfrau meint

    Liebe Milena,
    ach dieser alte Nörgler… wie gut, dass er übertönt wurde! Rausschmeißen können wir diese inneren Stimmen nun mal nicht, aber „sie erziehen“, war der Rat einer klugen Frau, den ich mal bekommen habe. Seitdem sehe ich meinen Nörgler mit anderen Augen und weiß gleichzeitig: das bin ja gar nicht ich!
    Schön, dass es dir gefallen hat – und gutes Einleben wieder in deiner Casita!

  3. Anke meint

    Oh, so ein netter Post! Schade, dass ich dich in Deutschland verpasst habe. Genau mein Thema heute… und ja, es wird anders, allein schon, wenn ich einfach nur bewusst werde, dass da wieder die Stimme redet. Hoffentlich bist du gut heimgekommen! Jetlag schlaucht so sehr!

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