Vorher/Nachher

„Das ist das Ende eines grossen Landes“, sagte Victor nach den Wahlen. Ich wollte ihm nicht glauben. Nachdem aber Erziehung, Gesundheitswesen und Kultur gestrichen wurden, muss ich ihm wohl recht geben. Trotzdem bin ich noch hier.

Was ist jetzt anders? Zum ersten Mal empfinde ich nicht dieses überwältigende Gefühl der Erleichterung, als ich aus dem Flugzeug steige, dieses „Yeah! Ich bin hier!“. Statt dessen stehe ich fast zwei Stunden lang mit gerunzelter Stirn in der Schlange – seit Trump die Willkür sanktioniert hat, dauert es noch länger als früher, in die USA einzureisen. Man müsse sich auf gründliche Fragen gefasst machten, bereitet einen die Schweizer Botschaft vor. Fragen, die man offen beantworten solle, und besser ohne Humor, denn „der könnte missverstanden werden.“ Als ich das letzte Mal, Ende Juni, vor Trump, aus der Schweiz zurückkam, hatte ich genau diesen Fehler gemacht. Ich hatte aus Versehen ein Kreuz an der falschen Stelle gemacht und den Grund meiner Reise als privat angegeben. Der Einreisebeamte machte mich darauf aufmerksam: „Ihr Visa berechtigt sie nicht zu privaten Reisen!“ Er blätterte in meinem Pass. „Wie lange bleiben Sie? Warum so lange?“ „Oh, ich liebe dieses Land“, sagte ich mit meinem breitesten Lächeln. „Wer wäre nicht gerne hier?“ Das war ein Fehler. Der Beamte, übrigens, war ein junger Muslim mit Bart und Stern-und-Halbmond-Anhänger, runzelte die Stirn. „Gehen Sie nach rechts“, sagte er. Ich dache mir nichts Böses. Doch die Türe rechts war mit „Detention and Investigation“ angeschrieben war. Da wurde mir doch ein wenig mulmig. Als ich hereinkam, war die Hölle los. Eine Asiatin wälzte sich am Boden, die Hände um ihren Hals gekrampft. Eine Beamtin rief nach einer Ambulanz. Die Frau hatte, um ihre Rückschaffung zu verhindern, eine Handvoll Büroklammern verschluckt. Oder zu verschlucken versucht. Eine vielköpfige Familie wartete still und resigniert, sieben dunkelhaarige Köpfe gesenkt. Was tue ich hier, dachte ich damals. Ich, die verwöhnte Schweizerin, der nichts passieren kann. Die nicht einmal Angst hat, wenn sie „nach rechts“ geschickt wird. Privilegiert sein heisst vor allem, ohne Angst zu leben.

Am Ende passierte gar nichts. Damals nicht, und auch diesmal nicht. Als ich endlich vor dem Schalter stand, fragte mich die nette junge Beamtin mit beinahe weiss gefärbtem Haar, ob wir den Job tauschen könnten, meine Arbeit klinge so viel spannender als ihre.

Eine Woche später, im Spital, liest Victor aus der Zeitung vor, dass die neuseeländische Botschaft von amerikanischen Auswanderern überrannt wird. „Das wundert mich nicht“, sage ich. „Come on!“ Bob, ein Schwarzer mittleren Alters, der gerade das Zimmer putzt, mischt sich ein: „Das ist immer noch ein tolles Land! Das kann der orangefarbene Affe nicht zerstören!“ Und schon sind wir in eine Diskussion über unser Herkunftsländer verwickelt, über Mexico und die Schweiz, über unsere Gründe, auszuwandern. Das liebe ich hier: Jeder redet mit jedem. Diese unsichtbare Grenze, die anderswo zwischen dem Putzmann und dem Patienten verläuft, existiert hier nicht.

Die Amerikaner sind immer noch die Amerikaner.

Aber mindestens die Hälfte von ihnen hat jetzt auch Angst.

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Leser-Interaktionen

5 Kommentare

Kommentare

  1. regenfrau meint

    Liebe Milena,
    ach was soll man da noch sagen?! Klar bleibt das Land toll und die tollen Menschen bleiben tolle Menschen. Das alles von einem Typ (und dessen Anhänger) zerstören lassen?
    Andererseits merke ich schon, wie sehr meine Aversionen gegen die USA wachsen und zunehmen…
    Auch aus der Entfernung ein schwieriges Thema!

    • Milena Moser meint

      Das kann ich sehr gut nachvollziehen! Meine Entscheidung, den Blog zu öffnen, nicht mehr „nur“ über das Schreiben zu schreiben, sondern auch über das Leben hier, ist eine selbstsüchtige: Ich versuche, schreibend zu verstehen, was hier gerade passiert. Die Widersprüche auszuhalten. Ob mir das gelingt? Wir werden sehen!

    • Heide Kuhn-Winkler meint

      „Andererseits merke ich schon, wie sehr meine Aversionen gegen die USA wachsen und zunehmen…“

      So geht es mir auch, liebe Regenfrau. Ich will das aber nicht zulassen, denn ich mag „die Amerikaner“ mit ihren Eigenarten.

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