Jetzt. Erst. Recht.

2454619534Ob Schreiben nicht seinen Sinn verloren hat, fragt Magdalena. Nach der Wahl von Donald Trump. Eine rhetorische Frage, so hoffe ich wenigstens. Und doch hatte ich dasselbe Gefühl, als ich am Morgen nach der Wahl in einem Hörsaal in Alabama vor einer Gruppe Deutschstudenten stand und mein letztes Buch vorstellte. Was soll das heute, dachte ich. Wen interessiert’s? Doch die Studenten hatten sich vorbereitet, Fragen aufgeschrieben, auf Deutsch. Nach wenigen Minuten hatte mich die Diskussion gepackt, ich vergass den Rest. Fünfundvierzig Minuten lang.

Man kann nicht ununterbrochen in diesem Zustand von Atemlosigkeit, Unglauben und Angst leben. Das Leben geht weiter, aber nicht wie zuvor. Es ruckt und rattert, es holpert und rast weiter. Ein Zug, der dabei ist, zu entgleisen. Man lenkt sich ab, man vergisst für einen Moment die Realität, dann schlägt sie einem wieder ins Gesicht.

November ist nicht nur Wahlmonat in den USA, es ist auch National Novel Writing Month. Die Geschichte schwappt in grossen Wellen über meinen Kopf, taucht mich unter, reisst mich mit. Ich lasse mich treiben. In Gegenden, von denen ich nicht einmal ahnte, dass es sie gibt. Ich springe zwischen den Generationen hin und her, von den siebziger in die dreissiger Jahre und zurück ins Heute. Ins Jetzt. Zwei Jungen, ein Mädchen. Und ein Geist. Immer wieder reisst mich etwas in die Realität zurück, eine Begegnung, ein Gespräch, eine neue Schreckensmeldung. Ich tauche kurz auf, schnappe nach Luft, schüttle mir das Wasser aus den Haaren.

Ich versuche, mich abzulenken. Was immer hilft: Fernsehserien. Ich schaue „Good Girls Revolt“, die wahre Geschichte einer Gruppe von „Dollies“ – so nannte man die Faktenprüferinnen auf den Nachrichtenredaktionen der sechziger Jahre. Diese jungen Frauen, oft besser ausgebildet, informiert und motiviert als ihre männlichen Kollegen, recherchierten, überprüften und redigierten die Artikel, die diese dann unter ihrem Namen veröffentlichten. „Wenn Sie schreiben wollen, gehen Sie woanders hin“, sagte man damals zu einer Studienabgängerin namens Nora Ephron, die diesen Rat nicht besser hätte befolgen können. Die, die blieben hatten irgendwann die Nase voll und verklagten ihre Arbeitgeber unter dem Gleichstellungsgesetz.

Lynn Povich, eine der Klägerinnen von damals, hat das Buch geschrieben, auf dem die Serie beruht. Als sie hörte, dass die Serie Ende Oktober anlaufen sollte, dachte sie noch: „Wen interessiert das, so kurz vor den Wahlen?“ Dann wurde sie von der Realität eingeholt. Während die Bilder über den Computerbildschirm tanzen – Miniröcke und Stiefel, Joints und die Pille und illegale Abtreibungen, Hippies und Vietnamveteranen, Love-ins und „Bring uns mal Kaffee, Schätztchen“ -,  wird mir plötzlich unwohl. Ist das nicht die Welt, die Trump will? Voller grossmäuliger Männer und langbeiniger Dollies, die Kaffee bringen und nicht zusammenzucken, wenn man ihnen im Vorübergehen zwischen die Beine greift? Ist das unsere Zukunft?

Ich erinnere mich an einen legendären Ladies Lunch mit ägyptischen Schriftstellerinnen und Journalistinnen in Kairo, ca 1992. Ein langer Tisch, an dem die unterschiedlichsten Frauen sassen, die einen mit Kopftuch, die anderen im Trägerhemd ohne BH und dazwischen ich in meinem extra für die Reise gekauften langärmligen, kniebedeckenden Kleid. „Kandidierst du etwa für Miss-Muslim-Chic?“, fragte eine und die anderen kreischten. Sie redeten alle laut durcheinander, assen mit den Fingern, lachten, rauchten. Ich dachte an meine Schweizer Freundinnen, die mich belehrt hatten: „Wie kannst du in ein Land reisen, in dem die Rechte der Frau so beschnitten werden? Und wenn wir schon beim Thema ‚Beschneiden‘ sind…“ Als hätte sie meine Gedanken gelesen, wandte sich meine Tischnachbarin an mich, eine elegante ältere Dame mit schwarzgefärbtem, hochtoupiertem Haar, eine Journalistin. „Aus der Schweiz kommen Sie also, wie nett! Wir hatten ja damals an der Uni ein Unterstützungskommittee für die armen Frauen in der Schweiz, die noch gar kein Stimmrecht hatten …“

Aegypten hat das Frauenstimmrecht 1956 eingeführt, die Schweiz 1971 (auf kantonaler Ebene 1990). Knapp vor Bangladesh, Jordanien und Liechtenstein.

Bis dahin hatte ich ernsthaft geglaubt, Fortschritt sei ein linearer Prozess. Vorwärts, aufwärts! Es kann nur besser werden! Doch in diesem Moment begriff ich, dass nichts, was wir erreicht haben, sicher ist. All die Vorzüge und Errungenschaften, die wir als selbstverständlich erachten: Sie können uns jederzeit wieder weggenommen werden. Oder anders: Wir können sie verlieren. Wenn wir nicht aufpassen. Wenn wir uns nicht wehren.

Ich konnte, was selten vorkommt, eigentlich nie, die Serie nicht zu Ende schauen. Too close to home.

(Das Bild oben zeigt Frauen in Kabul, ca 1969.)

 

 

 

Über die neuesten Blogbeiträge informiert bleiben

  • Dieses Feld dient zur Validierung und sollte nicht verändert werden.

Leser-Interaktionen

0 Kommentare

An der Diskussion teilnehmen

Hier können Sie Ihren Kommentar schreiben. Ihre Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit * bezeichnet.