In fahrenden Zügen.

Ich habe immer gern im Zug geschrieben. Aarau-Zürich, 23 Minuten, das reichte meist für einen sehr groben Entwurf einer Kolumne. Gerade weil die Zeit so knapp war, dass ich mir nicht lange überlegen konnte, was zum Teufel ich denn diesmal schreiben sollte. 23 Minuten sind nicht lange genug, um jeden Gedanken auf Originalität und Relevanz zu überprüfen. Dafür lieferte der Zug selber oft überraschende Geschichten. Auf dem Heimweg, Stunden später, hatte ich meist schon vergessen, was ich am Morgen geschrieben hatte. Ich schaute mir den Text ohne Erwartungen an und war oft überrascht von seiner Brauchbarkeit. 23 Minuten waren dann wieder gerade genug Zeit, um aus dem sehr rohen Material einen brauchbaren zweiten Entwurf zu schälen, oder einen dritten.

San Francisco-Oakland-Los-Angeles-Chicago dauert ein bisschen länger als 23 Minuten. Wir sind ziemlich genau vier Tage lang unterwegs, die meiste Zeit davon im Zug. Die Zugfahrt ist Teil einer Geschichte, die ich schreibe, aber sie ist plötzlich auch eine eigene Geschichte.

In amerikanischen Speisewagen darf man sich nicht einfach an einen freien Tisch setzen. Man wird mit anderen Passagieren zusammengewürfelt. Manche finden das mühsam. Für mich war es das Beste an der ganzen Reise: Die Geschichten. Überraschend tiefe, persönliche Gespräche über Kunst und Politik (nicht ein Trump-Supporter im Zug, dafür mehrere Bernie-Wähler) berührerende, inspirierende Begegnungen, einmal mehr die Erkenntnis, dass es „den Ami“ nicht gibt, sowenig wie den Schweizer an und Pfirsich. 43 Stunden und fünf Minuten waren nicht lange genug, um alles aufzuschreiben…

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5 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Horlacher meint

    Ein fahrender Zug, was für ein Angebot! So deutlich ist der Ausweg selten zu erkennen, meistens dauert es eine Weile, bis ich ihn bemerke, weil er schmal ist und unscheinbar, unattraktiv auch, ein Nichts, aus dem sich mit viel Geschick etwas machen lässt. Eine Möglichkeit, mehr nicht. Und nun das. Der California Zephyr. San Francisco-Oakland-Chicago. Ein Ungetüm von einem Zug. Unübersehbar. Ich sollte aufspringen, sofort, mich wegtragen lassen und eine Geschichte erfinden, ein Märchen zum Beispiel, so wie Chris Van Allsburg den „Polar Express“ erfunden hat. Oder ein Lied wie das über die „Wabash Cannonball“. Schliesslich ist das meine Stärke: Nicht in der Sackgasse zu verharren, kein Trübsal zu blasen, sondern ganz pragmatisch Gelegenheiten wahrzunehmen, wenn sie sich mir bieten. Warum also zögere ich? Ausgerechnet jetzt?
    Ich bin selten unterwegs in letzter Zeit. Und wenn, dann immer auf derselben Strecke. Bern-Brugg, Brugg-Bern. Jeweils 54 Minuten dauert ein Weg. Meistens lese ich die Zeitung. Diesmal nicht. Diesmal machte ich mir Gedanken – und Notizen, wie Milena. Ich wollte Heather antworten, ihr Kommentar trieb mich um, weil sie – was mich betrifft – ja recht hat. Es stimmt, ich verrichte meine Arbeit mit Schwermut. Nicht weil ich hoffe, so als Schriftstellerin ernster genommen zu werden, ich kann einfach nicht anders. Schwermut ist ein Teil meines Wesens. Das weiss ich noch nicht sehr lange. Ich habe diesen Teil bekämpft, ohne es zu merken, weil ich spürte, dass ihn niemand mochte. Bewusst war mir das nicht. Bewusst war mir nur mein angestrengtes Lächeln, wenn ich besonders bescheiden sein wollte und mich schämte, weil mir das nicht gelang. Etwas in mir drängte sich an die Oberfläche und mich in den Vordergrund – wo kein Platz für mich war. Meine mühsam unterdrückte Verkrampftheit löste Unbehagen aus, man wusste nichts mit mir anzufangen. Ich machte mich verdächtig, nicht ganz vertrauenswürdig zu sein, und wurde deshalb besonders gut ins Visier genommen, oder, im Gegenteil, schlicht und einfach ignoriert. Etwas dazwischen schien es nicht zu geben.

    Mittlerweile weiss ich, woher die Schwermut rührt. Ich habe es dank vieler Therapie-Sitzungen herausgefunden. Nur – Wissen allein heilt nicht. Einmal geprägt, reagiert das Gehirn sozusagen auf Knopfdruck. Was sich in der Seele angesammelt hat, lässt sich nicht so mir nichts dir nichts ausradieren, als wäre es ein Bleistiftstrich am falschen Ort, und so bleibt diese Schwermut voraussichtlich an mir hängen bis an mein Lebensende. Deshalb habe ich beschlossen, sie wie eine chronische Krankheit zu behandeln und mich, so gut es geht, mit ihr zu arrangieren. Therapie mache ich schon seit geraumer Zeit keine mehr. Mir kommt es vor, als hätte es sich bei der Therapie um eine Art „Groblektorat“ gehandelt und jetzt sei die Feinarbeit an der Reihe. Dabei nutze ich das Schreiben als Werkzeug. Da ich weder schriftstellerische Verpflichtungen habe noch Leser, die etwas von mir erwarten, kann ich es mir leisten, aus dem Augenblick heraus zu agieren, also gleichsam nach Lust und Laune. Ich habe eine Weile gebraucht, um dahin zu kommen, aber jetzt empfinde ich das ausbleibende öffentliche Interesse an meinen Texten als Privileg. Ob ich am Rahel-Roman arbeite, einen Wettbewerbsbeitrag schreibe, einen Blog-Kommentar oder eine Email an einen Freund – mir hilft alles.
    Die Fehl-Prägungen meines Gehirns äussern sich in körperlichen Symptomen. Je nach Situation wird mir schlecht, zieht sich das Herz oder der Magen zusammen. Mal schnürt es mir die Kehle zu und die Zähne schmerzen, mal kribbeln die Unterschenkel. Meistens folgt darauf ein mehr oder weniger starker Schweissausbruch, und ich fühle mich dem, was mit mir geschieht, hilflos ausgeliefert. Das ist unangenehm und macht Angst. Sich aufzulehnen, wie es die natürliche Reaktion ist, wenn etwas auf einen zukommt, das man lieber nicht erleben möchte, hat aber keinen Sinn. Diese Anfälle fordern ihren Platz. Sie wollen meine ganze Aufmerksamkeit. Seit mir das klargeworden ist, scheint mir, sind sie weniger heftig und flauen schneller ab. Jedenfalls bin ich jetzt in der Lage, das „Drum und Dran“ besser wahrzunehmen: Mit welchem Symptom begann der Anfall und wie verlief er anschliessend? Was löste ihn aus? Ein Gedanke? Etwas, das ich gerade gelesen hatte? Eine Begegnung oder ein Erlebnis oder die Erinnerung daran?
    Selbstverständlich gelingt es mir längst nicht immer herauszufinden, was einen Anfall ausgelöst hat, und oft ist es mir auch schlicht zu anstrengend, darüber nachzudenken und die Ursache schriftlich festzuhalten, wenn ich sie erkannt habe. Dennoch zeichnet sich so langsam ein Muster ab. Wenn zum Beispiel ein Anfall mit leichter Übelkeit beginnt, geht es jedes Mal in irgendeiner Form um das Beschuldigtwerden, jemandem etwas weggenommen – gestohlen – zu haben. Und das Würgen in der Kehle deutet auf Vertrauensmissbrauch hin. Auf ganz subtile, winzige Vertrauensbrüche, die mir kaum merklich den Boden unter den Füssen abgraben und ein gesundes Urteil über den Wert der meiner Persönlichkeit je länger je mehr verunmöglichen. Seit ich das weiss, bin ich misstrauischer geworden. Ich lasse mich nicht mehr so leicht ausbooten, kaltstellen, mundtotmachen. Ich wende das, was ich im Lektoratskurs gelernt habe, an, werde zur Protagonistin meines eigenen Lebens. Ich habe hinten keine Augen und sehe auch nicht in die Köpfe anderer Leute hinein. Ich konzentriere mich auf die Fassaden. Suche sie ab nach kleinsten Verschiebungen, kaum wahrnehmbaren Unregelmässigkeiten, nach Rissen, die dünner als Spinnfäden und doch eindeutig da sind, und dort hake ich dann ein. Nur für mich. Ich muss gar nichts tun, es ist eine Frage der inneren Haltung. Ich will niemandem schaden oder ihn gar zu Fall bringen, daran habe ich kein Interesse. Mir genügt die Sicherheit, dass nicht immer ich es bin, die falsch liegt. Und dass ich genau das notfalls auch belegen könnte mit Beweisen, die handfest und sichtbar sind, wenn man sich nur die Mühe macht und die Zeit nimmt, richtig hinzuschauen.
    Es ist meine Art, Boden unter die Füsse zurückzugewinnen. Ob sich diese Methode bewährt, weiss ich noch nicht, ich wende sie erst seit kurzem an, und es braucht nach wie vor wenig, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aber die Aussichten sind nicht schlecht, finde ich :-)

    • Hans Alfred Löffler meint

      Ein ganz toller Aufsatz hast Du da hingeschrieben, erinnert mich an DAS SCHWARZE SOFA, so blöd das ich das Buch verschenkt hatte. Aber wenn ich mich anstrenge finde ich schon wieder einmal.
      PS: Vor kurzem war ich in Bern, nur schnell, Zürich HB ab 19:02, ich las etwas und postete etwas darüber via Kindle. Dann war eine Vorstellung im Theater Schlachthaus 80 Minuten, dann.wieder zurück via HB Zürich nach Hinwil, mit letzten Zug, um 00:22 Uhr und niemand hatte es gemerkt.
      Ich war ja lange in Amerika und bin nie Zug gefahren, jetzt wieder in der Schweiz brauche ich den ÖV, schreiben könnte ich nicht im Zug, auch sonst nichts richtiges … Du kannst das!
      Alles Gute für Dich, liebe Grüsse –
      Hans Alfred

  2. regenfrau meint

    Liebe Milena,
    meine morgendlichen Zugfahrten zur Arbeit (26 min) gehören meinem Tagebuch. Die anderen Fahrten am Wochenende, manchmal auch auf anderen Strecken, bieten mir die Zeit zuzuhören, zu schauen und zu träumen. Allerdings bin ich wohl noch nie so lange in einem Zug gesessen! 4 Tage!! Ich bin gespannt auf die Geschichte. Gehört sie zu Luigi?

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