Irgendwo auf der Welt ist es bestimmt 15 Uhr….

52e222e7ce2976e004169cfa8dee288cNein, nicht beer-o’clock, wie die Australier sagen: Schreibzeit! Zu wissen, dass andere zur selben Zeit wie ich am Schreibtisch sitzen – acht oder neun Stunden Zeitverschiebung grosszügig mit eingerechnet – hilft mir. Ums Haar hätte ich mich nämlich heut Nachmittag mit Pierre Bonnard im De Young Museum verabredet, da fiel mir ein: Nein, geht nicht, ich habe Schreibgruppe! Désolée, mon cher!

Die Kommentare von Regula und Heather haben mich über Kritik nachdenken lassen, konstruktive und nicht. Auch wenn ich mit meiner ehemaligen Lektorin nicht unbedingt einverstanden bin – schliesslich gibt es das Konzept des allwissenden Erzählers – so hat ihr Vorgehen doch etwas bewirkt: Dass Regula über die Wahrnehmung ihrer Figur nachdachte. Dass ihr dabei eine ganz neue Welt des Erzählens aufging. Dass sie das Um- und Neuschreiben als Abenteuer empfand und nicht als Strafaufgabe. Dass sie sich dieser Herausforderung gestellt hat, macht sie zur Schriftstellerin, zu jemandem, dem es ums Schreiben geht. Wenn sie das nicht wäre, hätte sie vermutlich entmutigt den Bleistift sinken lassen.

Dieser Herausforderung muss man sich früher oder später stellen, wenn man es ernst meint. Will ich es wirklich wissen? Oder will ich nur gelobt werden?

Ich selber habe mit dieser Lektorin oft und manchmal heftig diskutiert und längst nicht alle ihre Anmerkungen aufgenommen – aber ich habe jede einzelne in Betracht gezogen. Manche habe ich ausgeführt, nur um sie doch zu verwerfen, einfach weil mir erst durch das Schreiben einer alternativen Szene klar wurde, was ich wirklich sagen wollte. So macht man sich einen Text, der erst einmal aus dem Unbewussten wie aus dem Nichts aufsteigt, mehr und mehr zu eigen. So wird die Entscheidung, was eine Figur sieht und was nicht, zu einer bewussten. Zu einer, die man gegen spätere Kritik verteidigen kann. Den Anfang von „Möchtegern“ habe ich mindestens dreimal umgeschrieben, nur um am Ende wieder bei der ersten Version zu landen. Erst durch das Umschreiben wurde mir klar, dass die etwas verschlungene, durchaus verwirrend scheinende Erzählweise zu dieser spezifischen Geschichte gehört, dieser Figur entspricht.

„Darf man so schreiben?“, habe sie sich gefragt, als sie mein allererstes Buch aufschlug. Das erzählte eine Buchhändlerin zwanzig Jahre später als Einführung zu einer Lesung: „Kann man so schreiben?“ Das habe ich mich damals nicht gefragt. Das frage ich mich auch heute nicht. „Kann ich anders schreiben?“ ist meine Frage. Die Antwort muss ganz klar sein: „Nein.“

Aber genug davon. Die Schreibgruppe ruft!

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5 Kommentare

Kommentare

  1. regenfrau meint

    Liebe Milena,
    und mal wieder kommen deine Anregungen genau zum richtigen Zeitpunkt!

    Die Schreibgruppe, die ich ganz sicher vergangenen Herbst gründen wollte… das festlegen einer fixen Zeit – mit sich und/oder anderen… aber vor allem: die Freude daran. Egal ob am Erstentwurf oder an der Überarbeitung!
    Danke!!
    Und: Frohe Ostern! :)

  2. Heather Cohn meint

    Konstruktive Kritik muss sein, gar keine Frage! Und trotz bisweiligen Stöhnens umschreiben und nochmal umschreiben.

    Was mich umtrieb, war und ist die Frage, ob literarisches Schreiben wirklich ausschließlich auf harter, unermüdlicher und sich selbst kasteiender Arbeit beruhen muss und sollte?
    Ich stelle mal die ketzerische Frage, wo die Lust, der Spaß an diesem kreativen Tun bleibt?
    Wird nicht gerade deutschsprachigen Schriftstellern unterstellt, dass sie nur ernsthaft zu nennen sind, wenn sie ihre Arbeit mit Schwermut anstatt mit dem Blick auf Lustgewinn verrichten?
    Die Journalistin in mir sieht ihre Tätigkeit als Pflicht, im Vergleich dazu das literarische Schreiben als Kür.
    Ist meine subjektive Sichtweise nachvollziehbar oder bin ich in Euren Augen gänzlich auf dem Holzweg?

  3. Regula Horlacher meint

    Ja, genau. Danke, Milena! Um in Bildern zu sprechen: Ich hatte meinem Text die neuentdeckte Sprache übergestülpt wie einen zu engen Schuh und ihm dabei, ohne es zu merken, Zehen und Ferse gekappt. Dann weckte der verstümmelte Text sozusagen das Mitleid der Lektorin/Kursleiterin – fast so, als wäre er ein misshandeltes Tier – und sie zog mich zur Verantwortung. Dabei übersah sie, dass ich Anfängerin war, das war vielleicht ihr Fehler. Aber abgesehen davon bin ich ihr für ihr vehementes Eingreifen mehr als dankbar. Wer weiss, wie lange ich sonst in dieser „Meine-schöne-neue-Sprache-Sackgasse“ verharrt hätte! Ich sah ja selber nicht, dass es eine Sackgasse war. Das musste mir jemand Aussenstehender sagen – jemand mit einem scharfen, unbestechlichen Blick.
    Und ja, natürlich, in der Hauptsache ging es darum, dass ich lernte, Leas Perspektive einzunehmen. Du hattest mir das bereits nahegelegt, aber mir war wohl noch nicht ganz klar gewesen, wie tief es greifen musste. Vielleicht hatte ich unbewusst auch einfach Angst gehabt: Immerhin erwartete mich ein sehr schmerzhafter Prozess, der mein ganzes bisheriges Weltbild ins Wanken bringen sollte. Und mein Leben. Ich bin ein einfühlsamer Mensch, und so hatte ich mich, auch wenn ich mich als Schriftstellerin in meine Figur Lea hineinversetzte, wie gewohnt in die mich umgebenden Figuren „eingefühlt“, indem ich ihnen aus Leas Sicht in die Köpfe schaute – das ist etwas ganz anderes, als wenn man aus der Sicht des allwissenden Erzählers schreibt, aber von diesem Unterschied wusste damals noch nichts. Ich (alias Lea) musste also lernen, die Figuren ausschliesslich von aussen zu beobachten: Ihre Mimik und Gestik, wie sie sich anzogen, was sie sagten und taten. Ich musste an der Fassade haltmachen und lernen, diese ganz genau zu betrachten. So entdeckte ich plötzlich, ohne es zu wollen, Unstimmigkeiten, winzige, aber wichtige Brüche, die mir vorher entgangen waren. Das hatte zur Folge, dass sich die längst vergangene Liebesgeschichte, an der ich mich aber nach wie vor all die Jahre aufrechterhalten, und die ich zum Thema meines Romans gemacht hatte, langsam in die Geschichte des Verrats umwandelte, die sie in Wahrheit von Anfang an gewesen war – eine Erkenntnis, die sehr weh tat, aber auch befreite, etwas ins Rollen brachte, Platz für Neues schaffte …

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