Wieder was gelernt!

Nach nur vier Monaten habe ich meine Auszeit kurz unterbrochen, die Cowgirlstiefel in die Ecke gestellt, die Schriftstellerinnentreter geschnürt. Vor langer Zeit hatte ich meine Teilnahme am 20. Literaturfestival in Lauf zugesagt – als ich noch nicht wusste, dass ich im Sommer 2015 auswandern würde. Grund genug, um wieder abzusagen, dachte ich – doch dann tauchten die Veranstalterinnen am Messestand in Leipzig auf und erinnerten mich freundlich, aber bestimmt an mein Versprechen. In der Zwischenzeit hatte ich auch noch einen Reiseführer verfasst, der ungefähr zur selben Zeit erscheinen sollte, und so wurde noch schnell eine Buchpremiere organisiert. Ich buchte einen Flug nach Zürich. Vier Monate sind nicht lang genug, um sich anders zu fühlen. Dachte ich.

Doch dann besuchte ich ein Konzert. Vor die Wahl gestellt, ganz hinten an der Wand zu sitzen und nichts zu sehen, oder vorne zu stehen und – eben, zu stehen, schob ich kurzerhand meinen Stuhl an den Bühnenrand und setzte mich dort hin. Als sei es das Normalste der Welt. Erst die Reaktionen der Umstehenden machten mir bewusst, dass man so etwas nicht tut. Vor vier Monaten hätte ich das auch noch gewusst. Es hat sich also durchaus etwas verändert. Ich habe mich verändert.

Jedenfalls: Es war schön. Die Lesungen haben mir grossen Spass gemacht, es war gut, das zu merken. Dass ich immer noch gerne Schriftstellerin bin. Nur einfach auf meine Art, zu meinen Bedingungen. Victor hatte recht, der von Anfang an sagte: „Quatsch, du pensionierst dich selber: Du nimmst nur eine Auszeit!“

Noch lieber als Schriftstellerin zu sein, schreibe ich. Im Zug nach Deutschland: Szene im Zug, denke ich. die kommen im ja Zug an, der Junge und seine Mutter… ich denke an den Bahnhof in Santa Fe und wie der wohl vor hundert Jahren ausgesehen hat… Und plötzlich sehe ich den Jungen, über ein Buch gebeugt, er liest gar nicht wirklich, aber er will seine Mutter nicht anschauen, die ihn da in der Wildnis aussetzt… Er heisst Luigi…. Er kommt aus dem Tessin… Nein, denke ich, bitte nicht, ich weiss doch gar nichts über die Auswanderer aus dem Tessin! Aber ich schreibe weiter, es ist sinnlos, sich gegen solche Eingebungen, die wie Blitze aus dem Nichts aufleuchten, aufzulehnen. Sie setzen sich immer durch. Ich sehe die Mutter, die aus dem Fenster schaut, sie weiss nicht, ob sie das Richtige tut, aber es war die Bedingung des Mannes, der versprochen hat, sie zu heiraten…. Vor dem Zugfenster zieht plötzlich eine andere Landschaft vorbei, die karge Hochwüste schiebt sich vor die lieblichen Weinberge –  das ist Glück.

Über die neuesten Blogbeiträge informiert bleiben

  • Dieses Feld dient zur Validierung und sollte nicht verändert werden.

Leser-Interaktionen

5 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Horlacher meint

    „… als ich noch nicht wusste, dass ich im Sommer 2015 auswandern würde“, schreibst du in deinem Input, liebe Milena. Genau dasselbe ist mir kürzlich auch durch den Kopf gegangen, als ich mit einem Korb voller Wäsche Richtung Waschküche unterwegs war und gleichzeitig die ins abendliche Zwielicht leuchtende Fassade des Nachbarhauses betrachtete: Vor einem Jahr habe ich noch nichts davon gewusst, dass ich einmal hierherziehen würde, dass ich zwölf Monate später bereits seit mehr als zehn Wochen in einem dieser vier identischen, langgezogenen Hochhäuser wohnen würde, die man „Scheibenhochhäuser“ nennt, wie mir inzwischen bekannt ist, dank der Ortsführung am Neuzuzügeranlass. Ich plante für die ersten drei Monate des kommenden Jahres einen Schreib-Aufenthalt in Berlin und war Ende November glücklich darüber, soeben die Zusage für eine Wohnung erhalten zu haben. Mein Vater lebte noch, fuhr trotz Krebsdiagnose und allwöchentlicher Chemotherapie mit dem Rennvelo durch die Gegend, hatte wie jeden Herbst im Nachbardorf bei der Weinlese mitgemacht und kümmerte sich nach wie vor um meine, durch eine chronische Krankheit in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkte, Mutter. Wir bereiteten uns auf Weihnachten vor und verbannten die Tatsache, dass sich sein Zustand irgendwann verschlechtern musste, aus unseren Gedanken. Wir verweigerten uns der Vorstellung, wie und dass es ohne ihn weitergehen sollte. Am 2. Januar fuhr ich nach Berlin. Ich war erst seit zehn Tagen dort, als mich die Nachricht erreichte, in seinen Kopf hätten sich Metastasen gebildet, es sei nichts mehr zu machen. Er konnte nicht mehr schlucken und das Augenlicht liess nach. Ich kehrte nach Hause zurück. Er wollte uns alle noch einmal sehen, solange ihm das noch möglich war. Ich wusste nicht, wann und ob überhaupt ich meinen Aufenthalt in Berlin würde fortsetzen können, aber Vater erholte sich noch einmal ein wenig, und als wir ihn, wie es seinem Wunsch entsprach, ins Sterbe-Hospiz gebracht hatten, verabschiedete ich mich von ihm und reiste wieder nach Berlin, um an meinem Roman weiterzuarbeiten. Er wusste, dass er mich jederzeit hätte rufen können, und ich konnte mich darauf verlassen, dass er mich gerufen hätte, wenn es notwendig gewesen wäre für ihn. Er meinte, was er sagte und tat, und was er nicht sagte und nicht tat auch. Das war schon immer so gewesen. Er rief mich nicht. Um meine Mutter kümmerten sich mein Bruder und seine Frau, ihre Schwestern, Schwägerinnen und zahlreiche Freundinnen und Freunde. Genauso, wie sie es auch jetzt tun.

    Mein Vater starb am 7. März um 11.15 Uhr.
    Irgendwann während der elf Tage, die mir nach seiner Beerdigung in Berlin noch blieben, entschied ich mich, die Umgebung, in der ich beinahe mein gesamtes 52-jähriges Leben verbracht hatte, zu verlassen. Ich erinnere mich nicht, wie und warum ich zu diesem Entschluss kam. Ich könnte es nachlesen, ich habe darüber geschrieben. Oder nein – das stimmt nicht, ich kann es nicht nachlesen, ich bin nicht in der Lage dazu, noch nicht, es geht mir zu nah: Mein Vater war mein Fels in der Brandung und nun ist er tot. Das Schreiben hat mir geholfen, mit der veränderten Situation vertraut zu werden, in die sein Tod mich und meine Familie versetzt hat. Ich musste mein Leben neu ordnen, meine Rolle im Familiengefüge neu definieren und dann für diese neue Rolle Platz schaffen, ganz langsam, Schritt für Schritt, immer zuerst in meinem Kopf und dann – ausserhalb von mir selbst – im Kreis meiner Nächsten. 250 Seiten waren dazu nötig, dabei hatte ich – faktisch – gar keine Wahl, denn eigentlich ist meine Rolle ja vorgegeben: Es ist die einer alleinstehenden 52-jährigen Frau, die für ihren Lebensunterhalt aufkommen muss. Ich hatte eine Auszeit gemacht und brauchte eine neue Anstellung und zwar eine, die mich physisch und psychisch nicht zugrunde richten würde, wie es die vorherige ohne Zweifel früher oder später getan hätte, wenn ich nicht rechtzeitig ausgestiegen wäre – doch offenbar leuchtet nicht alles, was im Grunde genommen sonnenklar ist, automatisch auch ein. „Wenn ich schreibe, zettle ich jedenfalls Widerstand an“, hat Maja Beutler einmal geschrieben – das scheint auch für mich zu gelten.
    Item. Ich habe es geschafft. Ich bin umgezogen, habe vor gut dreieinhalb Wochen die Arbeit in einem Altersheim in der Nähe meiner Wohnung aufgenommen und will nun rasch zu einem vollwertigen Teammitglied werden. Ich bemühe mich, was man mir erklärt, auf Anhieb zu erfassen, damit ich nicht allzu viel nachfragen muss und nur wenig falsch mache. Dennoch schauen sich meine Kolleginnen manchmal über meinen Kopf hinweg an und sagen zum Beispiel: „Wir versorgen die Bewohnerwäsche selber, sonst wird es zu viel für sie“, oder „Ich übernehme heute das Frühstück, sie ist noch etwas unsicher.“ Dann schlucke ich kurz und straffe die Schultern: Sie meinen es gut mit mir. Nur gut. Sie wissen, wie viel man sich merken muss am Anfang und haben Verständnis, wenn einem noch nicht alles so leicht und schnell von der Hand geht, wie es sollte.
    Als ich nach den ersten acht Arbeitstagen eine ganze Woche lang frei hatte, verbot ich mir das Schreiben: Nichts, was ich bisher im Heim gelernt hatte, durfte vergessen gehen, nichts in den Hintergrund rücken. Alles musste gleichermassen griffbereit bleiben in meinem Kopf, zuvorderst auf dem Tablar sozusagen, wie die Intimtücher und Latexhandschuhe in den Pflegeschränken der Altersheimbewohner. Auf keinen Fall wollte ich, dass meine neuen Kolleginnen die Geduld mit mir verloren. Trotzdem kam im Lauf der Woche mehr und mehr die Angst in mir auf, genau das könnte geschehen, und ich würde wieder in dieselbe Situation geraten wie an meinem letzten Arbeitsort. Ich rief mich zur Vernunft, weil ich wusste, dass die Atmosphäre hier anders und das Interesse an einer guten Zusammenarbeit echt ist, hatte ich das doch vom ersten Augenblick an gespürt. Es nützte nicht viel, die Angst blieb. Ich musste sie aushalten, bis ich nach den freien Tagen zurückkehren und mich handfest davon überzeugen konnte, dass das, was ich von Anfang an gespürt hatte, der Wirklichkeit entsprach: Nämlich, dass dieses Altersheim am Stadtrand von Bern tatsächlich ein guter Ort ist, ein Ort, an dem ich bleiben kann, ohne Schaden zu nehmen – zwölf Jahre lang, womöglich.
    Nun habe ich schon zum zweiten Mal eine ganze Woche frei. Bis jetzt hat mich die Angst noch nicht gepackt, und schon muss ich mir auch das Schreiben nicht mehr verbieten. Rasch ziehen graue Wolken an meinem Fenster vorbei. Ab und zu ein blauer Fleck. Jedes Mal, wenn das Glockenspiel vom Tscharnergut zu mir herüberklingt, freue ich mich. Auf des Munots altem Turme einsam halte ich die Wacht. Die Auswahl der jeweiligen Melodie richte sich nach der Jahreszeit – auch das weiss ich seit der Ortsführung am Neuzuzügeranlass. Deshalb nehme ich an, dass das Munotsglöcklein nun wohl bald von einem Weihnachtslied abgelöst wird. Fragt sich nur noch von welchem – man darf gespannt sein :-) 

    Ob ich glücklich bin? Ja. Ich bin glücklich.

  2. regenfrau meint

    Liebe Milena,
    ich konnte mir dich nie als „nicht-mehr-Schriftstellerin“ vorstellen. Ich kenn dich halt nur als solche. Und zwar als eine, die ihre Begeisterung über diesen „Beruf“ herrlich weitergeben kann! :)
    Umso schöner, wenn du jetzt schreibst, dass es dir noch/wieder Freude macht.
    Und dieser Luigi scheint ja ein sehr bewegtes Leben (gehabt) zu haben…

  3. Hans Alfred Löffler meint

    Also, sagen wir er heisst Lugi und er wandert gar nicht ein, aus auch nicht. Vielmehr bleibt er in der Schweiz, er lässt sicht einfach durch die Röhre schleussen und ohne Umsteigen ist er in Zürixh, mitten in der Stadt. Vielleicht ist das Wetter besser als im Tessin. Auf jeden Fall hat er sein Handy mitgenommen, oder war das Vater? Nein, damals gab es zwar schon Handys, also war es doch Lugi, er spricht ein bisschen Deutsch, z.B. fragt er: „Mit welcher Tram fahre ich bis Rehalp?“ Niemand weiss es, keiner spricht Deutsch … Danke, für das neue Buch, lass mich wissen, wann die Nabelschnur weggetrennt wird :-)

An der Diskussion teilnehmen

Hier können Sie Ihren Kommentar schreiben. Ihre Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit * bezeichnet.