Wer bin ich und wenn ja, wie viele Emails kriege ich?

„Einundsechszig emails heute“, sagte der Mann mit dem roten Gesicht und schaute von seinem Smartphone auf. Wir fuhren mit dem Flughafenbähnli im Kreis herum,  er und seine Gruppe waren, dem Gepäck und der Kleidung nach zu schliessen, auf dem Weg zum Golfen. Ehrlich gesagt, weiss ich nichts übers Golfen, sie könnten auch übergrosse Blasinstrumente eingepackt haben oder Schlimmeres. Unförmige Leichen?

„Ich habe 150“, konterte ein älterer Mann mit einem abenteuerlich gestreiften Pullover. So einen Pullover zu tragen ohne mit der Wimper zu zucken, zeugt von unerschütterlichem Selbstvertrauern. Der gestreifte Pullover entsprach dem Silberrücken des Gorillas. Und deshalb unterbrach die ganze Gruppe ihre Seitengespräche um das zu hören: 150 emails! An einem Tag!

Vermutlich war er es auch, der den Ausflug organisiert und bezahlt hat – der Schwiegervater, dachte ich. Kommt davon, wenn man das Abteil mit einer Schriftstellerin teilt: Man wird Teil einer Geschichte. Wie auch immer, der jüngere Mann mit dem roten Gesicht zog den Kopf ein und steckte sein Gerät weg.

„Ich meinte, 61 vor dem Mittagessen“, versuchte er zu retten, was zu retten war. „61 seit wir losgefahren sind!“ Aber da hörte schon niemand mehr zu. Und ich dachte an meinen virtuellen Briefkasten, der sich in den letzten Monaten wie von selber geleert hat. Und daran, dass ich Tag für Tag weniger Mühe habe, in diesen Briefkasten zu schauen. Dass ich nicht mehr tief einatme, bevor ich meine mails checke, als würde ich das Schlimmste erwarten. Das Schlimmste? Man könnte meinen, ich hätte nur Drohbriefe und Schmähungen erhalten, aber das war nicht so. Es waren die Anfragen, die mich aus der Fassung brachten, selbst die schönsten, die schmeichelhaftesten und lukrativsten. Es war die Angst, sie nicht alle erfüllen zu können, die in mir das absolut gegenteilige Gefühl auslöste wie in den Golfern. 61 emails vor dem Mittagessen waren genug, um mich den Tränen nahe zu bringen.

„Du wirst es nicht lange aushalten“, warnte man mich vor meiner Abreise. „Du wirst es vermissen!“ Die Aufmerksamkeit, die Öffentlichkeit, das Gefühl, eine gefragte Persönlichkeit zu sein.

Nicht so. Im Gegenteil.

Speaking of: letzte Woche nahm mich eine Bekannte mit zu einer Auffangstation für frisch entlassene weibliche Strafgefangene. Wir brachten Kleider und Küchengerät, die genau inspiziert wurden. „Die Leute bringen uns gern ihren alten Ramsch“, sagte Jane, eine der Leiterinnen. Eine kräftige Frau Mitte vierzig mit einem streng geflochtenen Zopf, der ihr bis zum Po fiel und einem von einigen harten Jahren zeugenden Gesicht. „Im Moment brauchen wir vor allem Businessklamotten, Sachen, die man zu einem Vorstellungsgespräch trägt.“ Die ausgeleierte Trainerhose legte sie zurück in die Tüte. Meine Bekannte verschwand irgendwo, Jane machte Small Talk: Wo ich herkomme etc.

„Oh, Switzerland“, sagte sie. „Da lebt doch Tina Turner!“

„Genau.“

„Stimmt es, dass Tina Turner in Switzerland vollkommen unbehelligt durch die Strassen gehen kann?“

Da war ich ziemlich stolz auf mein Land: „Oh ja, und sie kauft sogar im Supermarkt ein, ich kenne Leute, die kennen Leute, die haben sie schon an der Kasse warten sehen! Und unser President fährt mit der Strassenbahn!“

„Wow! Da möchte ich auch leben.“

Dann kam meine Bekannte zurück und wir verabschiedeten uns von Jane.

„Grüss mir Tina“, rief sie mir nach.

„Tina?“, fragte meine Bekannte irritiert, „welche Tina denn?“

„Tina Turner!“

„Ach so, klar.“

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3 Kommentare

Kommentare

  1. regenfrau meint

    Liebe Milena,
    ich liebe diese Beobachtungen „zwischenmenschlicher Ereignisse“, wie man sie so gut auf Reisen oder auch im freien Gelände verfolgen kann.
    Du hast sie so wunderbar beschrieben – der Silberrücken… nach dem werde ich in Zukunft in jeder Gruppe Ausschau halten! :D

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