Lang. Sam.

beautysalon04Meine Kisten sind gekommen, sie waren voller Bücher. Dabei habe ich vor meiner Abreise doch noch gut 90 Migrossäcke voller Bücher weggeben. Es sind immer noch mehr, als ich Regale habe. Sie stapeln sich neben auf dem Fussboden, neben der Türe, neben dem Bett. Trotzdem kaufe ich immer wieder neue – ich kann es nicht lassen. Letzte Woche zum Beispiel  „The Mockingbird next door“ eine autorisierte/nein doch nicht autorisierte Biografie der notorisch pressescheuen Nelle Lee Harper.

Die Autorin Marja Mills, eine Journalistin aus Chicago gewann 2001 überraschend das Vertrauen der Schriftstellerin und ihrer Schwester, besuchte sie mehrmals in Alabama und mietete im Jahr 2004 schliesslich für achtzehn Monate das Haus gleich nebenan. Trotz späteren Statements, in denen Harper sich entschieden von dem Buch distanziert, ist eine Nähe, eine Freundschaft spürbar. Sie führt dazu, dass Mills eigentlich nichts erzählt. Jedenfalls nichts Neues, nichts Aufregendes. Warum hat Harper Lee nie mehr ein Buch geschrieben? Woran ist ihre Freundschaft zu Truman Capote zerbrochen? Warum hat sie sich so radikal aus der Öffentlichkeit zurückgezogen? Nichts. Sie füttern die Enten, sie trinken Kaffee bei McDonalds, sie gehen fischen. Sie besuchen Freunde, die einen Fernseher haben und schauen sich ein Fussballspiel an. Es passiert nichts und doch kann ich das Buch nicht weglegen. Dabei bin ich noch nicht mal mit dem Mockingbird aufgewachsen – plötzlich erinnere ich mich, damals in San Francisco, das schockierte Gesicht der Nachbarin, als ihr klar wurde, dass meine Söhne Dr. Suess nicht kannten. Sie brachte gleich einen ganzen Korb voller Bücher herüber und sagte: „Eine Kindheit ohne Dr. Suess ist keine Kindheit!“  … „ist keine amerikanische Kindheit“, wollte ich antworten, aber ich sagte nichts. Die Fernsehserien sind überall dieselben, die Jugendromane auch, nur die Kinderbücher nicht. Es macht vermutlich eben schon einen Unterschied, ob man mit Green Eggs and Ham aufgewachsen ist oder mit dem Schellenursli. Zurück zum Mockingbird next door, den ich täglich zum Entenfüttern begleite. Ich ergebe mich dem schwerfälligen Rhythmus des Buches, werde von ihm verzaubert. Die Journalistin übrigens litt damals unter Lupus und war arbeitsunfähig geschrieben. Die Alltagsgeschwindigkeit der damals 78jährigen Autorin und ihrer damals 93jährigen Schwester Alice entsprach ihr. Sie beschreibt einen Fitnesskurs im Kirchengemeindezentrum, der auf Stühlen durchgeführt wird.

Warum hat Harper Lee nichts mehr geschrieben? Und wie ist es passiert, dass ihr erstes, von Verlag abgelehntes Manuskript, die Urform des Mockingbirds, jetzt erschienen ist? Trotz allem nehmen mich diese Fragen weniger gefangen als der seltsame Zauber dieses langsamen Lebens.

Ein anderes, noch nicht aufgeschlagenes, aber (kein Wunder) gekauftes Buch heisst „Slow Writing“. Logisch.

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7 Kommentare

Kommentare

  1. james alien woods meint

    „Eine Kindheit ohne Dr. Suess ist keine Kindheit!“

    Ah, yes — „Ich bin Sam. Sam bin ich.“

    „I am Sam. Sam I am.
    Would you like green eggs and ham?“

  2. Sigrist Verena meint

    Liebe Milena

    eben habe ich Ihr Buch „Das Glück sieht immer anders aus“ gelesen
    es hat mich gefesselt
    es hat mich berührt
    es hat mich neugierig gemacht: wie würde mir Santa Fé gefallen? ich muss dorthin!
    es hat mich zum schmunzeln gebracht
    es hat mich nachdenklich gestimmt
    und und und

    vielen Dank!

    herzliche Grüsse

    Verena

  3. Hans Alfred Löffler meint

    2010 «Dies ist keine Geschichte, ich erzähle keine Geschichte, es ist wahr, ich habe es erlebt. Es gibt in wirklich, den Klub der Lügner».
    von Seite 191 aus dem Buch MÖCHTEGERN von MILENA MOSER

    2014 »Although Marry Karr was a published poet, when she decided to write her memoir: THE LIARS‘ CLUB, she had to begin afresh and learn the memoir form.«
    page 51 THE ART OF SLOW WRITING by LOUISE DeSALVO

  4. Hans Alfred Löffler meint

    Zum erwähnten Buch von Harper Lee vielleicht noch der Deutschsprachige Titel WER DIE NACHTIGALL STÖRT mit Textteil von Amazon.de :::
    Es gehört laut einer Umfrage zu den zehn meistgelesenen und bekanntesten Büchern in Deutschland; auch wer es nicht kennt, weiß oft mit dem Titel etwas anzufangen, der sich ins kollektive Bewusstsein gebrannt hat. In Zeiten von Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit liest es sich unvermindert modern und als ein Buch am Puls der Zeit.
    Herzlichen Dank an Milena Moser die immer wieder mal auf Bücher oder Autoren hinweist denen ich dann neugierig folge.

  5. regenfrau meint

    Liebe Milena,
    was für ein wunderbarer Titel für einen Post!
    Ich war in Gedanken schon bei Sam und fragte mich, wer er wohl sei… Ein schöner Name Sam Lang. Lang Sam. Hat er einen Freund nahmens Tom Kurz? Oder wäre das schon wieder zuviel des Guten? ;)

    Aber es sind die Bücherpakete von einem früheren Zuhause, die nun langsam eingetrudelt sind und ausgepackt werden. Bücher haben die abenteuerliche Eigenschaft sich immer wieder zu vermehren. Schön!
    Ich wünsche dir eine gute Zeit zwischen deinen Bücherstapeln, in die sich immer mehr neue Bücher schummeln werden. :)

  6. Heidi keller-lehmann meint

    Liebe milena
    A propos bücher liegen überall: damit ich mich in meiner wohnung wohl fühle, brauche ich in der ganzen wohnung verstreut meine bücher-nester.
    Herzlich, heidi

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