Das Leben ist ein Dealer.

BoyBookstoreBlitzWas ich letzte Woche zu erwähnen vergessen habe: Ich habe meinen Geburtstag im Spital verbracht. Oh, keine Angst, „nur“ als  Begleitung. Was allerdings auch nicht ohne ist: Die Hilflosigkeit. Zuschauen, wie ein geliebter Mensch leider, malträtiert wird, nichts tun können – da sind wir wieder beim Nichts. Und bei der Frage, ob es wichtig gewesen wäre, zu erwähnen, dass ich den letzten Beitrag in einem amerikanischen Spitalzimmer geschrieben habe, den Computer auf den Knien, das wackelige „Gästebett“ nur halb zum Sessel zusammengeschoben, das viel zu kurze Leintuch über den Füssen? Es hätte den Text verändert, das bestimmt. Man kann ein und dieselbe Szene aus sieben verschiedenen Blickwinkeln beschreiben, und sie bleibt doch wahr. Es war keine bewusste Entscheidung, den Ort, an dem ich mich aufhielt, nicht zu erwähnen, es war mir nur nicht wichtig genug.

Der Spitalaufenthalt hat mir unendlich Stoff geliefert, ich schreibe kurze Portraitsskizzen. Christy die Wander-Schwester aus Mississippi, die mit zwei Freundinnen in einem Zimmer wohnt, um Geld zu sparen. Sie arbeiten Schicht, drei Monate, dann drei Monate reisen, Asien, Afrika, bis das Geld ausgeht und sie im nächsten Krankenhaus anheuern. Sergheij aus Moldawien, der alle drei Wochen nach Deutschland fliegt um seinen Freund zu sehen, der bei der Armee ist. Der stille Taxifahrer aus Aethiopien, der mich mit seiner höflichen Fürsorge zu Tränen rührt, der junge iranische Arzt, der das schwarze Schaf seiner Künstlerfamilie ist: „Alle können etwas: Schreiben, Musizieren, Tanzen… und ich bin nur der Nerd, der Organe verpflanzt!“

Ich schreibe diese kleinen Skizzen nur so zum Spass, es müssen keine Figuren entstehen, keine Geschichten sich entwickeln. Dann werfe ich mich kopfvoran in den grossen verwilderten Garten. Ich jäte, ich stutze, ich reche, ich räume. Einmal mehr: Ich räume. Fülle dreissig Kompostsäcke mit Unkraut, mit toten Ästen. Ich finde verborgene Schätze, eine Statue, einen kleinen Zitronenbaum. Was erst unüberschaubar schien, nimmt plötzlich Form an. Das kann ich, denke ich. „Am Sonntag bin ich fertig“, sage ich. Doch ich schaffe es nicht, es wird plötzlich heiss, ich muss eine Pause machen. Ich bin nicht zufrieden mit mir, wieso mach ich jetzt schlapp?

Spinn ich jetzt komplett? Wen kümmert es, wann der Garten fertig ist?

Fast hätte ich diese Woche ausserdem einen Auftrag angenommen. Nur weil er so verlockend klang. Ein Jahr wollte ich mir gönnen, ein Jahr ohne Deadlines – und werde schon nach drei Wochen beinahe rückfällig. Und im Zweifelsfall setze ich sie mir selber.

Hm.

Alice kommt vorbei, wir sitzen im halbaufgeräumten Garten und sie erzählt mir von ihrer Arbeit als Kunsttherapeutin mit geistig behinderten und psychisch kranken Erwachsenen – „differently abled“ heisst hier der politisch korrekte Begriff. Sie erzählt von Marlon, der sie jede Woche von Neuem fragt, woher sie seinen Namen wisse. „Wir haben uns letzte Woche schon gesehen, Marlon.“ Er schaut sie dann kokett von unten heraus an, mit diesem Blick, der sagt: „Du willst mich wohl verarschen?“ Und dann will er wissen, ob sie das Bild gemalt habe, das gerade unter seinem Pinsel entsteht. „Nein“, sagt Alice dann. „Das hast du gemalt, Marlon.“ Und er, wieder mit diesem Blick:  „Ach waaaaaaaas!! Erzääähl mir doch nichts!!!“ Alice versuchte alles, hielt seine Hand mit dem Pinsel fest, von dem noch die Farbe tropfte, sie zeigte ihm seinen Namen auf dem Blatt, nichts konnte ihn überzeugen. Und so sagte sie eines Tages sagte sie einfach: „Ja, das hab ich gemalt, gefällt es dir?“ Und Marlon, mit demselben koketten Seitenblick wie immer: „Ach waaaaaas!!! Erzääääähl mir doch nichts!“

Erzähl mir nichts. Mir kannst du nichts erzählen. Ich habe alles schon selber erzählt. Kommt es darauf an, wer das Bild gemalt hat? Wem der Garten gehört?

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Leser-Interaktionen

9 Kommentare

Kommentare

  1. Marlyse hinn meint

    Liebe Milena Moser
    Wie ich Ihre Kolumnen in der Schweizer Familie vermisse!!
    Jede Woche erinnere ich mich, dass ich immer hinten begonnen habe zu lesen. Erstmal die „Kolumne“, dann war ich schon zufrieden mit der Ausgabe!
    Um zu begreifen, wie weit weg Sie leben, habe ich das Karten App konsultiert und Santa Fe gesucht. Sie leben in einem fast viereckigen Staat, New Mexico. Santa F. hat einen Flughafen und ein Las Vegas in der Nähe. Die grosse Parktour hinter Los Angeles kenne ich, aber so weit wie Santa Fe kam ich nie. Was heisst schon weit, in den USA ist wohl alles weit, aber gut verbunden mit Strassen, die nummeriert sind und alles verbinden und verkürzen. Und überall die National Parks, die Trails, alles mit Weite umgeben. Ich hoffe so sehr, dass es Ihnen wieder gefällt in den Staaten, dass der Garten, das Haus Heimat wird und die Gelassenheit glücklich macht.
    Übrigens, wie haben einen tüppig heissen Sommer, die Sommerzeit war nur erträglich am Wasser. Am Montag müssen die Kinder wieder zur Schule, der Alltag kehrt zurück. Mein Sohn lebt in SF, Ihre Söhne in der Schweiz, wir teilen das Los der Distanz zu den Lieben. Es ist nicht schlimm, nur anders.
    Alles Gute aus der Schweiz und herzlich
    marlyse hinn (65) Warum schreibe ich das Alter, ersetzt es ein Foto??

    • Ruth Oesch meint

      Liebe Milena Moser
      Mir geht es wie Marlyse ich vermisse die Kolumne jede Woche und immer noch schlage ich die SF jedesmal auf der letzten Seite auf. Heute dachte ich, evtl. finde ich etwas über das Leben von Milena in Amerika im Google und sie da, ich bin auf diesen Blog gestossen. Welch gutes Gefühl, es gibt wieder Einträge, die ich lesen kann.
      Sie wohnen an einem sehr schönen Ort. Auf einer USA Reise besuchten wir Santa Fee. HG Ruth

  2. Anna Esposito meint

    Deine Sprache ist eine Lokomotive und ich liebe es als ein Wagon bei dir angehängt zu sein und deine Landschaften zu sehen. Immer sind es dann auch meine Landschaften, die ich tagträumend mit dir entdecke. Der Respekt vor deinem richtigen Leben ist groß, denn du sprichst meist zwischen zwei Buchdeckeln zu mir, oder jetzt im Blog. Der ist ja etwas privater und doch versuche ich Respekt zu behalten für dein Leben, das ja auch schmerzvoll sein muss, wie jedes andere auch. Manchmal denke ich auch wenn du dich geißelst, gaahtsnoo! Dabei muss ich lachen, denn die einzige die mich hört bin ja nur ich. Also doppelt danke, dass du mich schlauer sein lässt als dich und dann etwas schlauer werde als mich. Happy words!

  3. Marianne meint

    Es geht mir aehnlich wie Denise Tomaschett, ich vermisse jetzt schon die Kolumnen in der Schweizer Familie.Auch ich habe das Gefuehl, dass mich irgendetwas mit Milena verbindet, obwohl wir uns nie kennengelernt haben. Ich bin 1999 mit meiner Familie nach Kanada ausgewandert und mir ist natuerlich einiges bekannt vorgekommen, das Milena damals erlebt oder gelernt hat, als sie in den Staaten gelebt hat.
    Ich wuensche Dir alles Gute fuer diesen Neuanfang
    Marianne

  4. Hans Alfred Löffler meint

    Ich lese Dein „letztes“ noch einmal, denn :::

    von Dir DAS GLÜCK SIEHT IMMER ANDERS AUS Edition 2014:
    «Komm, wir schauen uns zur Abwechslung ein Haus an», sage ich. Das ist eine Art Hobby von mir. Überall schaue ich auf die Aushänge der Immobilienbüros, als meinte ich es ernst.

    von mir: EIN UNGLÜCK – ES WAR EINMAL Datum 25. Dezember 2003, Colorado Springs, CO U.S.A.
    I made photos from all nicley decorated houses in the Holiday Village Senior Park in Colorado Springs. My „then“ wife Evelyn wasn’t home so I took my time during the day. Ca. 5:00 p.m. the door bell rang: POLICE! I had to leave my home, art studio, office and sculpture garden to spent Christmas in jail.

  5. Regula Horlacher meint

    Manchmal passiert es mir, dass ich in einem Buch etwas lese und es gleich darauf wieder vollkommen vergesse. Ich meine damit nicht, dass ich irgendwelche langweiligen Beschreibungen oder belanglose Szenen vergesse sondern bemerkenswerte Gedankengänge eines Autors, die er beispielweise in einem Mail oder einem Brief jemandem mitteilt oder, wenn es sich bei dem Buch um einen Roman handelt, einer Figur in den Mund legt. Auch dass man Wesentliches vergisst, ist normal, ich weiss, man kann nun mal nicht alles im Kopf behalten. So scheint es jedenfalls – denn ich vergesse nicht nur manchmal, was ich gelesen habe, zuweilen fällt es mir auch wieder ein. Ich meine nicht, dass ich mich daran erinnere, denn das tue ich nicht, nur, dass es mir wieder einfällt. Das heisst, ich bin absolut überzeugt davon, der fremde Gedankengang samt den Schlüssen, die der Autor in seinem Buch daraus gezogen hat, sei mein eigener – was mich mit Genugtuung und Stolz erfüllt. Und da, wie dieser Blog zeigt, mein Mitteilungsbedürfnis gross ist, halte ich mit meinen vermeintlich neuen Erkenntnissen auch nicht hinter dem Berg…

    Ich bin eine gewissenhafte Leserin, oft lese ich Bücher zweimal. So bin ich mir auf die Schliche gekommen. Ich weiss nicht, was es über mich aussagt, dass ich mich mit fremden Federn schmücke, auch wenn es unabsichtlich geschieht. Ich geniesse keine Narrenfreiheit wie Marlon. Ich bin „normalintelligent“ und für das, was ich sage und tue, selber verantwortlich. Eigentlich mag ich Teamarbeit, ich empfinde sie als befruchtend: Man entwickelt Gedankengänge gemeinsam, der jeweils nächste Gedanke wird sozusagen aus dem vorhergehenden geboren. Das, was ich eben beschrieben habe, ist aber keine Teamarbeit. Ich bin allein mit dem Buch eines Autors. Ich lese es und vergesse es. Später spült mein Unbewusstes Teile davon wieder an die Oberfläche. Treibt Blüten sozusagen, und ich pflücke sie. Ich könnte auch schreiben, mein Unbewusstes produziere Klone. Aber das gefällt mir nicht.

  6. Denise Tomaschett meint

    Liebe Milena….ich spreche Dich jetzt so vertraulich an, weil Du mir eben so vertraut bist. Gerade gestern hat mir meine Mutter, sie besucht mich ab und zu in den Bündner Bergen, einen ganzen Stapel herausgerissene Kolumneblätter von Dir aus der Schweizer Illustrierten überreicht. Sie erhält jeweils das Heft von ihrer Schwester, gibt das Heft weiter (weil mich ausser Deiner Kolumne) nichts daran interessiert, und übergibt mir dann eben die Kolumne. Normalerweise lese ich sie sofort voller Vergnügen – diesmal aber denke ich mir – ich muss sparsam damit umgehen – denn es gibt sie ja nicht mehr – die Kolumne meine ich. Ich wollte Dich das einfach wissen lassen, wie sehr Du mich durch mein Leben begleitest. Das Buch „Das Glück sieht immer anders aus“ hat mich begeistert und ich hatte, wie so oft, das Gefühl „das hat sie für mich geschrieben – genau so fühle ich auch – genau so denke ich auch“. Aber ich bin sicher, mit diesem Empfinden bin ich nicht alleine. Ich freue mich auf jeden Fall auf ein weiteres Buch von Dir – irgendwann – und bis dahin werde ich diese Texte – die ich zu meiner Freude gerade entdeckte – geniessen. Herzlichen Dank für Dein Schreiben und Deine Offenheit – mich an Deinem Leben teilhaben zu lassen ………….Alles Liebe und Gute auf Deinem weiteren Weg wünscht Dir von Herzen Denise ( Jg.1964).

  7. regenfrau meint

    „Spinn ich jetzt? Wen kümmerts wann der Garten fertig ist?“ gelesen und gelächelt! :)

    Vor 5 1/2 Jahren bin ich in dieses Haus mit Garten gezogen und wenn ich mich dann endlich mal aufraffen konnte, aufzuräumen, „Ordnung“ zu schaffen, entwickelte ich einen sonderbaren Ehrgeiz, alles immer gleich zu machen. Half nur nix. Es wächst ja immer wieder alles nach und fertig wird man nie. Manchmal schaffe ich es mittlerweile, nur das Tun und Werkeln draußen zu genießen… dann bin ich nachher immer erstaunt, wieviel ich geschafft habe…

    Und noch nachträglich: Alles Gute! :D

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