Maitresse de Rien

1b73861a47f1ac2e9aa46361d670af19_iKaum angekommen, war schon Nationalfeiertag. Fourth of July. Der Grill streikte und das Feuerwerk verglühte im dichten Nebel, es war trotzdem sehr schön. Lauter nette Menschen mit wunderbaren Ideen: Ich könnte  in der Buchhandlung um die Ecke eine Lesung abhalten. Die Freundin der Tochter einer Freundin könnte meine Bücher ins Englische übersetzen. Ich könnte ein Gefängnis besuchen, einen Vortrag halten, an einem Theaterprojekt mit Insassen mitarbeiten. Lauter Dinge, die ich vergebens anzureissen versucht hatte, als ich vor Jahren hier lebte. Verlockend, dachte ich. Trotzdem sagte ich: „Danke, nein, ich mache erst mal gar nichts!“

„Waaaas, hörst du etwa auf zu schreiben?“

Nein, natürlich nicht! Ich höre auch nicht auf zu atmen, zu essen oder zu schlafen! Das meine ich nicht, wenn ich sage ich mache „nichts“. Was heisst es denn, „nichts“? Ich denke an Dieter Meier, Maitre de rien. Vielleicht kann er das erklären!

Dieter Meier hat mir zu einer der besten Erfahrungen meines beruflichen Lebens verholfen, das war vor etwa 25 Jahren. Ich weiss nicht mehr, worum es ging, um einen Film vielleicht, jedenfalls sollte ich zu einer Besprechung zu ihm kommen. Ich war jung, ich hatte kein Geld, dafür ein kleines Kind. Was hiess, dass ich für einen Auftrag alles tun wollte, aber selten konnte. Auch an diesem Nachmittag hatte im letzten Moment doch wieder niemanden, der meinen damals zweijährigen Sohn hütete. Ich rief Meier an, einigermassen verzweifelt, wollte absagen. Aber der sagte: „Ist doch kein Problem, bring ihn einfach mit, er kann mit den anderen Kindern spielen!“ Diese rannten um den Swimming Pool und riefen „Boris Blank, Kassenschrank!“ Mein Sohn klammerte sich an meinem Bein fest und biss auf den Nuggi. Schliesslich sass er während der ganzen Besprechung auf meinem Schoss. Am Ende schüttelte Dieter Meier im die kleine Hand und sagte: „Gratuliere zu deiner ersten Sitzung, hast dich gut gehalten!“ Dann kam seine Frau dazu, die damals schwanger war, glaube ich. Monique Meier hörte sich geduldig meine Klagen einer überforderten Mutter an und gab mir dann die Telefonnummer der Leiterin einer seit Jahren ausgebuchten städtischen Kinderkrippe: Ich solle mich ruhig auf sie beziehen, sagte sie. Das nützte natürlich nichts, was auch richtig ist so, trotzdem half es mir. The kindness of strangers, von Menschen, denen es vollkommen egal sein könnte, wie man sich durchschlägt. Wir sind alle auf sie angewiesen. Diese Erleichterung, mitten im meinem damals recht chaotischen und anstrengenden Alltag einen Moment lang zu merken: Es könnte schon gehen.

Ungefähr zwanzig Jahre später lud Meier mich ein, in seinem Restaurant zu lesen. Und dabei erzählte er mir von den Maitres de rien. Damals berührte es mich mehr, als dass ich es verstand. Dass jemand, der so viel hat und so viel kann, auf das Nichts so besonders stolz ist, so besonderen Wert legt. Heute denke ich, ich verstehe es eher. Ich muss die Feuerwerke nicht sehen, und ich esse die Würste aus der Pfanne.

Ich esse, ich schlafe, ich schreibe.

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7 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Horlacher meint

    Liebe Milena, zuerst ALLERHERZLICHSTE GLÜCKWÜNSCHE ZUM GEBURTSTAG!

    Und hier noch mein Kommentar zu „Maitresse de Rien“:
    Was ist denn das überhaupt, „nichts“? Jedenfalls nicht nichts. Wenn man „nichts“ im Internet googelt, stösst man nämlich auf etwas. „Nichts“ ist gewissermassen prominent. Die weltbekanntesten Philosophen sämtlicher Jahrhunderte setzten sich mit „nichts“ auseinander, liessen sich an- und umtreiben davon. Ich habe die Wikipedia-Seite dazu trotzdem nicht gelesen und auch sonst nichts, was das Internet an „nichts“ zu bieten hat. Mir ist nämlich selber etwas eingefallen. Der Auszug aus Ägypten. Der Exodus. Als die Israeliten aus Ägypten auszogen, teilte sich das Meer für sie, damit sie durchkonnten. Wo vorher etwas war, war jetzt nichts mehr: Das Nichts als Chance sozusagen. Eine „Nische“ würde man das wohl heutzutage nennen. Ein Platz, wo auf den ersten Blick gar kein Platz zu sein scheint –
    Doch was tun, wenn sich das Meer nicht öffnet? Was tun, wenn man in der Wüste steht, vor sich das Meer? Unerbittlich? Ein grausiger, auswegloser Gedanke – grausig und ausweglos genug, schon ohne die Vorstellung, auch noch von einem feindlichen Heer verfolgt zu werden, das einen partout nicht gehenlassen will!
    Nun ist das Heer aber dennoch da – das kann man nicht so mir nichts, dir nichts unterschlagen. Und die Aussicht darauf, dass sich das Meer, kaum hätte ich den trockenen Meeresgrund betreten, hinter mir wieder schliessen und ebendieses Heer mit Mann und Maus verschlingen würde, schaudert mich, auch wenn es mir nicht wohlgesonnen ist, beinahe ebenso heftig, wie die auf meinen eigenen unweigerlichen Untergang am lückenlosen Meeresstrand. Ich bin ein friedliebender Mensch. Ich mag es nicht, wenn um meines Glückes Willen, ein ganzes Heere versenkt wird. Auch nicht ein einzelner Mensch. Vielleicht ergibt sich deshalb diesmal keine Öffnung –

    Keine Öffnung – keine Rettung. Hm. Was also bleibt? Ich könnte mich freiwillig ergeben und dorthin zurückkehren, wo ich hergekommen bin. Einfach da weitermachen, wo ich aufgehört habe. Einsichtig sein, vernünftig. Vernünftig?? Was ist „vernünftig“? Den Weg des geringsten Widerstandes gehen? Oder vielleicht doch eher weiterdenken? Die töten mich nämlich nicht. Die wollen mich nur zurückhaben, nicht töten. Tot nütze ich ihnen ja nichts –

    Trotzdem: Tatsache ist, ich will nicht. Ich will nicht zurück.
    Ja, aber –
    Nichts aber.

    Bestandesaufnahme:
    Meer, Wüste, Verfolgung durch feindliches Heer. Kein Ausweg in Sicht.

    Ausser –
    Was??
    Der Fantasie.

    Na gut. Dann schiess mal los!
    Erstens muss das Heer ausgeschaltet werden und zwar mit einem „Impedimenta“-Zauber. Sobald ich weg bin, kann dann von mir aus der Pharao oder sonst wer kommen und den Zauber rückgängig machen, das ist mir egal. Hauptsache, die lassen mich in Ruhe abziehen.

    Und dann?
    Rufe ich den Fischkönig. Dem hat das Meer nämlich im Lauf der Zeit viel Nützliches in seinen riesigen Bauch geschwemmt. Zum Beispiel auch einen kleinen Solarmeerwasserentsalzungsapparat auf Rädern. Den soll er mir ausspucken.

    Aha. Gut – weiter?
    Dann muss ich die Richtung ändern und zwar um 90 Grad. Ob nach rechts oder nach links spielt grundsätzlich keine Rolle. Ich gehe nach rechts.

    Warum?
    Eben – weiss ich nicht. Nur so instinktmässig.

    Nein, warum du überhaupt die Richtung ändern musst, meine ich.
    Aha. Ich könnte mir auch ein Schiff oder ein Flugzeug ausdenken, meinst du wohl? Ja, könnte ich. Aber auf Schiffen wird mir schlecht und vorm Fliegen habe ich Angst. Ich halte es für das Vernünftigste, zu Fuss der Küste zu folgen. Schön langsam. Du bist skeptisch? Warum? Das garantiert mir doch am Ehesten, dass ich nicht im Kreis herumlaufe …

    Und das ist dein einziges Ziel? Nicht im Kreis herumzulaufen? Na, ich muss schon sagen –
    Nein, natürlich nicht. Ich hoffe, irgendwann auf eine Kokospalme zu treffen. Oder noch besser auf eine Dattelpalme. Ich liebe Datteln. Verstehst du?

    Nein. Aber wenn’s dir Freude macht?!
    Tut es, das versichere ich dir.

    (Regie-Anweisung: Zieht die Augenbrauen hoch und schüttelt den Kopf) Na dann, ab die Post. Viel Glück!
    Danke! Kann ich brauchen. (Regie-Anweisung: Beginnt, den Solarmeerwasserentsalzungsapparat hinter sich herziehend, der Küste entlangzugehen. Kommt erstaunlich rasch vorwärts. Nach einer Weile: Schaut sich kurz um, lächelt und winkt. Geht anschliessend fröhlich pfeifend weiter.)

  2. Christine Stutz meint

    Liebe Milena. Deine Worte berühren mich, ich verstehe dich so gut. Es ist bereichernd, dass du das tust was du tust und darüber schreibst! Danke!
    Herzensgruss aus Züri
    Chris

  3. Hans Alfred Löffler meint

    Natürlich ist es heiss hier in der Schweiz, aber die Kühle (das coole) kam mit Deinem Blog den Du ganz besonders lieb mit 6. Juli 2015 betitelt hattest, d.h. zu meinem 75sten Geburtstag. Also sag‘ ich dazu: DANKESCHÖN !!!!

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