Es gilt ernst

Mein Vater soll beim Anblick meines frischgebadeten, gewickelten und in einen krankenhauseigenen Strampler verpackten Bruder wehmütig geseufzt haben: „Sie haben einen Bürger aus ihm gemacht!“

So ähnlich seufze ich jetzt, wenn ich mein Word-Dokument öffne. Auf dem Computer-Schreibtisch. „Nochmal Nevada.“ Klick. Es ist so …. offiziell. Ein angefangenes Manuskript. Muss ich jetzt etwa ganze Sätze machen? Ich klicke es weg, klappe das Notebook zu, hole mein Notizheft heraus, einen Bleistift. Ich schreibe gern mit Bleistift, Bleistift kann man ausradieren, die Schrift verwischt mit der Zeit, Bleistift gilt noch nicht wirklich. Selbstüberlistung!

Ich benutze für dieses eine Projekt zwei verschiedene Chribelhefte, die ich immer mit mir herumtrage (ausserdem einen sehr kleinen Computer, zwei Kilo Zeitungen vom Stapel der noch nicht gelesenen und ein angefangenes Buch. Das ist meine Grundausrüstung, wenn ich das Haus verlasse.) Warum zwei Hefte? Keine Ahnung. Ich habe hunderte, unübertrieben hunderte von Notizbüchern herumstehen, die höchstens zu einem Drittel gefüllt sind.

Kürzlich habe ich den hinteren Teil meiner Schreibstube aufräumen wollen, der seit Jahren von aufgerissenen Kartonschachteln verstellt ist. In diesen Schachteln befinden sich etwa hundert gebundene Exemplare von Stutenbiss, die verramscht worden sind. Die Autorin hat dann das Recht, so viele Exemplare, wie sie will, zu einem Sonderpreis zu kaufen. Es gibt nichts Schlimmeres, als diesen Brief vom Verlag: Verkaufszahlen rückläufig…… Bitte geben Sie… Exemplare… Sonderpreis von einem Euro… Frist bis… eingestampft werden.

Ach Quatsch. Natürlich gibt es Schlimmeres. Viel Schlimmeres. Trotzdem, ich mache einen Bogen um die Kisten, setze mich auf die Treppenstufen und ziehe wahllos drei alte Notizbücher aus dem Regal. Blättere. Finde Ideen, Skizzen, angefangene Sätze zu verschiedenen Romanen. Ideen, Skizzen, Sätze, die ich dann nie verwendet, nie ins offizielle Manuskript übertragen habe. Manche finde ich gar nicht schlecht. Blutverschmierte Säuglinge, ungebadet, ungewickelt. Haben sie nicht laut genug gebrüllt? Oh Gott, dieses Bild ist mir wieder mal ganz gewaltig verrutscht!

Egal. Ideen, Sätze, Formulierungen, die nicht einmal im Kopf der Autorin hängen bleiben, kann man wohl getrost vergessen. Was wollte ich eigentlich sagen?

Ich schweife ab. Ich weiche ab. Ich drücke mich vor der Arbeit.

Aber ich wette, da bin ich heute nicht die Einzige…

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7 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Haus-Horlacher meint

    @Milena: Nun träum ich schon von deinen toten Säuglingen! Oder nein, nicht tot sind sie ja, nur blutverschmiert, da kamen mir wohl die zwei toten Schweine aus meiner eigenen Erinnerung in die Quere: Das eine begleitete uns während einer Fahrt im Gummiboot auf dem Rhein. Es war brütend heiss, der Fluss hatte kaum Strömung, und so war das Vorwärtskommen für uns wie für das Schwein gleichermassen mühsam. Eine grausige halbe Stunde lang leistete es uns Gesellschaft.
    Das andere hatte unsere Dackelhündin aus dem Misthaufen eines nahe gelegenen Bauernhofs gegraben und nach Hause gebracht. (Nein, nein, nicht hereingebracht natürlich, nur auf den Türvorleger hat sie es gelegt. Ich glaube auch nicht, dass es als Trophäe gemeint war, eher zum Fressen. Hunde mögen nun mal gern solche Dinge! Lieber als Rhabarbermus. Und ja, ich gebe es zu: Es waren nur Ferkel. Beide Male.)
    Aber eigentlich geht es ja hier um blutverschmierte Kinder –
    Oder nein, um Sätze, die verloren gegangen sind, weil sie zu wenig laut geschrieen haben…
    Ja, und eigentlich führe ich normalerweise auch gar kein Tagebuch. Es ging mir nur darum, etwas festzuhalten, damit es nicht verloren geht. Einen hochsommerlich heissen Abend Ende Mai vor dreieinhalb Jahren. Oder eigentlich nur einen Augenblick an diesem Abend. Ich dachte, dass man daraus einen Roman machen könnte. Wenigstens einen Roman.
    Aber irgendwie ging die Sache dann doch weiter. Nicht so wie ich es mir gewünscht hätte, natürlich, das geht es ja nie. Es wurde eher zu einer Art Fahrt ins Ungewisse. (Ins Ungewisse, ausgerechnet! Dabei versetzt mich nichts so sehr in Stress wie Ungewissheit!)
    Man muss sich Gulliver vorstellen. Gulliver, von den Liliputanern an den Boden gefesselt. Gulliver, der sich nicht regen kann, ohne dass die liliputanischen Sonntagsausflügler samt Kind und Kegel, Pferd und Wagen auf seinem Bauch durcheinanderpurzeln. Und weil er so reglos daliegt, vergessen sie bald, dass er ja eigentlich ein MENSCH ist und sie richten sich auf ihm ein, bauen Häuser und Ställe für das Vieh. Und Gulliver selbst vergisst es auch fast. Nämlich, dass er in Wirklichkeit ein Mann ist und nicht nur ein Berg mit schöner Aussicht. Wie etwa die Rigi oder das Stanserhorn…
    Oje, ich glaube, jetzt bin ich vollends abgeschweift, tut mir Leid!
    Ich wünsche euch allen einen glücklichen Rutsch ins neue Jahr!
    Herzlichst
    Regula

  2. Gise Kayser-Gantner meint

    … bist Du Hellseherin, liebe Milena? Natürlich „drücke“ ich mich vor der Schreibarbeit. Diesmal effektvoll, denn ich habe Ordentliches getan (meinen Steuerberater nicht in die Bredouille gebracht, er ist sehr engagiert für meine Sache) …
    – dafür aber die Muse nicht ran gelassen. Und die Ecke im Schreibzimmer – na, die kommt mir doch sehr bekannt vor! Aber noch 6,5 Stunden, um den Vorsatz zu betonieren, der heißt: 2012 wird alles anders!!!
    Positiv ist: Der Schreibtisch ist leer, die Notizbücher lagern im Rücken, griffbereit, Stifte und Endlospapier sind angerichtet – das wiegt doch schwer genug für gute Voraussetzungen, oder?????
    Schöne Zeiten für Dich! Gise

  3. Eva Ellendorff meint

    nein, liebe Milena, Du bist nicht die Einzige; ich blättere seit Tagen in meinen Notizheften – auch ich habe mehrere – (nur den kleinen Computer habe ich noch nicht, vielleicht eine gute Idee, mal überlegen…) – dann lese ich wieder und dann versuche ich es wieder mit meiner Geschichte und die Person, ein Mann, entsteht netter, als ich ihn wollte und ich überlege, ob ich nicht stattdessen den Keller aufräumen sollte…
    Und ich freue mich auf Dein neues Buch, bitte Lesung in Köln (soll ich meinen Buchhändler auf die Idee bringen?).
    Dir einen guten Rutsch, danke für Deine Gedanken und in 2012 eine wunderschöne Liebesgechichte!
    Herzlichst
    Eva

    • Milena Moser meint

      @ Eva – aber gerne, wenn Köln ruft, komme ich! Ich freue mich auch auf das Buch – und erinnere mich immer wieder selber daran, dass das mal als genau so ein müdes Häufchen wirrer Notizen begonnen hat…

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