Ich bin die 48, 9 Prozent.

images-1 imagesLetzten Freitag, elf Uhr nachts am Zürcher Hauptbahnhof. Ich komme von einer Vorstellung, es war ausverkauft, grossartiges Publikum, viel Applaus. Wunderbar. Ich bin noch immer ein bisschen aufgekratzt, ziehe meinen rosa Bühnenkoffer hinter mir her, habe einen Blumenstrauss in der Hand. Wenn ich mich beeile, erwische ich den 23.08 auf Gleis 17. Ich will nachhause, habe morgen früh eine Lesung. Alle anderen wollen genau das Gegenteil, sie wollen raus, in den Ausgang, der Bahnhof platzt aus allen Nähten. Es wimmelt von Menschen, Hunden, Wodkaflaschen. Ein Glastransporter versperrt den Zugang zu mehreren Gleisen, ich muss um ihn herumlaufen, es wird knapp. Flüchtig frage ich mich, warum diese riesigen Glasscheiben ausgerechnet jetzt ersetzt werden. Glasscheiben und Betrunkene vertragen sich erfahrungsgemäss schlecht. Doch bevor ich den Gedanken zu Ende denken kann, rutschen meine treuen Bühnenstiefel unter mir weg, der Blumenstrauss fliegt mir aus der Hand, ich knalle der Länge nach hin. Sofort bin ich von besorgten Passanten umringt, die mir aufhelfen. „Nichts passiert“, stammle ich, noch ein wenig verwirrt. Jemand reicht ein Papiertaschentuch, um meine Jacke abzuwischen – die Pfütze, in der ich ausgerutscht bin, war Erbrochenes.

Jetzt mal ehrlich: Jeder Lektor, der auf sich hält, würde mir diese Szene streichen. „Das ist ein bisschen gar dick aufgetragen. Vom Scheinwerferlicht in die Kotze – nein, das ist zu plump. Das geht gar nicht!“

Hörst du, Leben? Das geht gar nicht! Bei der Lesung, beziehungsweise dem Gespräch am nächsten Morgen stellt sich unter anderem die Frage, wie viel ich von mir preisgebe. Wie viel ist zu viel?

Vor Jahren, als meine Kinder noch klein waren, schrieb mir eine Leserin. Sie sei alleinerziehend und berufstätig und habe neulich abends um zehn als alle schon schliefen, noch die Wäsche gebügelt und dazu fern gesehen. Und da sei ein Interview mit mir ausgestrahlt worden. „Wie bringen Sie das alles unter einen Hut?“, wurde ich gefragt. Und die Leserin dachte: Wenn die jetzt sagt, es sei alles eine Frage der Organisation, dann schmeiss ich das Bügeleisen in den Bildschirm! Ich aber antwortete wahrheitsgetreu: „Ach, ich hangle mich so von Nervenzusammenbruch zu Nervenzusammenbruch!“ Und das hat der Leserin gut getan. Spät abends am Bügelbrett hörte sie: Wir sind nicht allein.

Was nicht heisst, dass man es nicht versuchen soll: Alles unter einen Hut zu bringen. Oder gar, dass man sich nicht alles wünschen, alles anstreben soll, was unter einen Hut passt. Was die Hutkrempe sprengt. Aber man darf nicht zu hohe Ansprüche an sich stellen. Es sieht nicht immer schön aus. Es fühlt sich nicht immer gut an. Aber es macht trotzdem Spass.

Nachdem ich an diesem Morgen schon einiges aus meinem Leben erzählt hatte, zum Beiuspiel dass ich gern um 6 Uhr morgens im Zendo sitze und meditiere oder dass ich als junge Frau in Paris gelebt habe, las ich einen Ausschnitt aus „Das wahre Leben“ vor. Und da kamen genau diese beiden Details vor. Heisst das also, ich bin Erika?

„Wie viel von Ihnen steckt in dieser Figur, in diesem Buch?“ Auch so eine Lieblingsfrage, auf die ich nun endlich eine Antwort weiss, dank der amerikanischen Autorin Pam Houston: „Genau 48, 9 Prozent!“

 

 

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4 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Horlacher meint

    @Milena: Ich habe letzthin im Zusammenhang mit Sibylle Berg den Begriff „Vielschreiberin“ gelesen. Darum geht es mir. Ich frage mich, ob es möglich ist, durch Üben routinierter und schneller zu werden, ohne mit der Zeit nur noch hohle Worte zu produzieren. Ich bin von Natur aus langsam. Dazu kommt, dass es mir nicht möglich ist, zwei oder mehr Tätigkeiten aufs Mal zu verrichten. Nicht einmal bügeln und fernsehen kann ich gleichzeitig, ich muss immer alles hintereinander machen. Nun weiss ich zum Glück aus Erfahrung, dass ich tatsächlich durch Üben mein Tempo steigern kann und zwar massiv. Aber wenn es ums Schreiben geht, fällt es mir schwer, auf diese Erfahrung zu bauen. Schreiben gehört schliesslich zur Königsdisziplin, zur Kunst. Nicht zu vergleichen mit der Arbeit in einem Altersheim, in einer Kirchenpflege oder gar im Haushalt. Das ist etwas überspitzt ausgedrückt, aber im Kern trifft es schon, was ich meine. Denn in der Kunst, davon sind meine Affengeister zutiefst überzeugt, habe ich nun mal nichts, aber auch gar nichts zu suchen. Wer auf diesem Parkett tanzen will, braucht Talent, und wer Talent hat, braucht nicht zu arbeiten. Kunst ist Leichtigkeit, Kunst schwebt, Kunst fliesst einem zu, und wenn sie das nicht tut, ist es keine Kunst. Kunst und Arbeit gehören nicht zusammen, Arbeit ist sozusagen das Gegenteil von Kunst …
    Selbstverständlich weiss ich, dass das vollkommener Unsinn ist. Aber dieses Wissen hilft mir nicht viel, weil es ein reines Vernunftwissen ist. In irgendeiner Ecke meines Gehirns ist eine Falle programmiert, und wenn ich dieser Falle zu nahe komme, breche ich in Schweiss aus, der Atem geht schwerer, mir wird übel, oder ich bekomme Kopfschmerzen. Was-glaubst-du-eigentlich-wer-du-bist? Wegreden nützt gar nichts. Ignorieren auch nicht. Aber ich habe etwas herausgefunden: Ich glaube, ich habe beim Schreiben des schwarzen Sofas versehentlich mein Gehirn umprogrammiert. Das minuziöse Erfinden aller Schauplätze, die in diesem Buch vorkommen, zeigt Folgen. Einige dieser Schauplätze gibt es wirklich, zum Beispiel das Ferienheim, in dem das Skilager stattfand. Das Neuerfinden dieses Hauses scheint bewirkt zu haben, dass ich mir das real existierende nicht mehr vorstellen kann. Beim besten Willen nicht. Es gibt in meinem Gehirn nur noch das Erfundene. Das ist etwas unheimlich, aber vor allem macht es mir Hoffnung. Möglicherweise wird ja die Was-glaubst-du-eigentlich-wer-du-bist-Falle durch die konzentrierte Spracharbeit, wie ich sie im Augenblick betreibe, auch wegerfunden? Plötzlich ist sie einfach nicht mehr da, ersetzt durch irgendeine Erfindung, die zufällig den richtigen Nerv getroffen hat? Das wäre wunderbar und ist einer der Gründe, warum ich unbedingt auch eine Vielschreiberin werden will. :-)
    Abgesehen davon mag ich das Gefühl, demnächst platze die Hutkrempe. Ich arbeite nämlich gern. Die Vorstellung, auf einer rosa Wolke zu sitzen und zu warten, bis die Kunst angeschwebt kommt, wie es den Affen offenbar erstrebenswert erscheint, kann mich nicht locken. Viel zu langweilig. So sind halt die Geschmäcker verschieden …

    • Milena Moser meint

      @ Regula: Interessant, ich höre oft das Gegenteil: Schreiben sei reines Handwerk, mit viel Fleiss und einem guten Plan kann jeder ein gutes Buch schreiben. Da sträuben sich mir dann alle Federn… Etwas Langweiligeres kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich weiss auch, dass die Muse eine zickige Diva ist, der ich jeden Tag den roten Teppich ausrollen muss, damit sie ab und zu geruht aufzutauchen und mich auf die Stirn zu küssen. Dann aber….!

  2. Hans Alfred Löffler meint

    Das Buch das ich gerade lese, gibt es nicht als eBook (oder ich fand es nicht), aber ich MUSSTE was der Hinweis auf Pam Houston bedeutet. Bei mir auf dem Bildschirm war der Name der Autorin blau, also klickte drauf … und dann fand ich auch den Dante, so on page 17: „Now that Dante had had all the chemo …“. Erika fand ich nicht im Buch, aber eine interessante Beschreibung zum Weg und Speise zwischen Meeker und Rangely „There is food and limited lodging in both Rangely and Meeker, nothing in-between. If you want the best meat available on a hundred kinds of sandwiches, you’ll go to Brother’s Custom Processing on the main street of Meeker. The name is odd, but the sandwiches are great. If you just want ice cream, then go to Clark’s.“ PS: das Buch heisst „Sight Hound“ (by Pam Houston) und der Dollar kostet auch in CHF wenig und die Kindle App war sowieso gratis. Also kam ich durch lesen Deines Blogs wieder einmal nach Colorado und werde eine Zeitlang mich dort aufhalten. Danke für den Tip oder Link, oder einfach für Dein Blog der mich immer wieder irgendwohin führt, sogar ins Theater. Danke.

    • Hans Alfred Löffler meint

      nur das ich das nie vergesse, auch wenn ich nie in den Kindergarten durfte/musste/konnte. Aber Erika war im Chindski, «…. mit anderen Kindern …. zwanzig, dreißig …., die lärmten und lachten und schubsten. Angst überwältigte Erika. Sie versteckte sich in der Puppenecke …., aber die Kndergärtnerin entdeckte sie …»
      «Erika spürte, dass sie anders war als die anderen Kinder. Sie war kleiner. Anders angezogen. Sie sprach anders. Anders war nicht gut, das gab ihr die harte Hand der Kindergärtnerin zu verstehen. Keine Extrawurst! Extrawurst war auch nicht gut.» Abgeschrieben, z.T. mit durch … Pünktli ersetzt von Seite 13 aus dem Buch DAS WAHRE LEBEN von Milena Moser, erschienen am 26. August 2013, ISBN-10: 3312005760 –
      «…, dass die anderen Kinder sie Niiteli riefen. Später wurde Niita daraus … eine Kultfigur … Erst Max hatte sie zu Erika gemacht.»

      Und jetzt weiter mit Dante, nicht dem mit dem Hirntumor, zu dem in den U.S.A., in Colorado, einem Hund, an irish wolfhound, registriert unter http://www.bookcrossing.com/journal/12684714

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