Die eigene Masche.

images-2Schon wieder sitze ich am Flughafen, schon wieder schreibe ich diesen Blogeintrag vom Gate, die letzten Minuten nutzend, die letzten Balken der Batterie. Warum fliege ich immer sonntags? Warum schreibe ich diesen Blog? Berechtigte Fragen, die vorläufig unbeantwortet bleiben müssen. Ich habe tatsächlich eine Woche Ferien gemacht. In Hamburg, wo es kalt war und schön, wo ich einen Koffer habe und alte Freunde und auch brandneue. Kann man sich mit Babies befreunden? Ich glaube, man kann. Ausserdem habe ich so viel geschlafen wie schon lange nicht mehr. Morgens, mittags und nachts. Ich habe zwei längere Texte geschrieben, ich habe meinem Verleger versprochen, das Reisebuch Mitte August abzugeben. Dreissig Seiten hab ich ihm gezeigt, 150 bis 170 weitere fehlen noch. Ein gewisser Druck entsteht, der mich belebt, der mich antreibt. Ich werde ein bisschen aufgeregt. Gestern oder vorgestern habe ich einem Fremden zu erklären versucht, was der Unterschied zwischen einem Roman und einem autobiographischen Text ist. Ich glaube nicht, dass es mir gelungen ist. Man kann nichts erklären, das einem selber nicht klar ist. Für mich ist diese Grenze fliessend. Genau so wie bei einem Roman wird mir auch hier erst schreibend klar, worum es eigentlich geht. Obwohl ich schon weiss, was passiert ist (immerhin war ich dabei), windet sich die Handlung aus meinen Händen, sie entzieht sich mir, sie setzt sich neu zusammen. Aspekte gewinnen an Gewicht, an die ich nicht einmal gedacht hatte. Der Fokus verschiebt sich. Es bleibt spannend. Die Frage nach der Wahrheit stellt sich wieder und wieder: Was ist wahr? Für wen? Wie lange? Ist das, was tatsächlich passiert ist, wahrer als das, woran ich mich erinnere? Immerhin bin ich nicht selbstgerecht genug zu glauben, das, woran ich mich erinnere, sei wirklich passiert, sei wirklich wahr.

Schon bin ich wieder abgeschweift. Eigentlich will ich seit Wochen auf einen Kommentar von Regula eingehen, die erzählt, dass ihr Deutschlehrer einmal unter einen Aufsatz geschrieben hat: „Passen Sie auf, dass Ihr fragmentarischer Stil nicht zu einer Masche wird!“ Das kann einem nämlich passieren: nicht, dass man einen Stil übernimmt, der einen gefällt, sondern dass der eigene Stil sich überholt und zur Masche wird. Wenn man wie ich seit 25 Jahren Texte veröffentlicht, wird man immer wieder mit früheren Versionen seiner selbst konfrontiert. Überholten Versionen. Das ist so rührend und gleichzeitig peinlich wie das Betrachten alter Fotos: Jesses, sah ich mal so aus? Mein Gott, war ich jung! Aber die Frisur geht ja gar nicht…. In meinen ersten Geschichten sprang ich wie ein Kind von einer Pfütze in die nächste, jeder Satz spritzte auf, jedes Bild sprühte. So war ich. So dachte ich. So sah ich die Welt. Das war keine Masche – bis es eine wurde. Das merkte ich aber nicht gleich. Meine Art zu schreiben wurde jahrelang abgelehnt: „So schreibt man nicht!“ Dann plötzlich ging es nicht nur, es wurde sogar verlangt: „Schreib noch mal genau so!“ Vor lauter Erleichterung merkte ich nicht, dass ich mich veränderte. Ohne dass sich mein Schreiben veränderte. Oder wieviel Anstrengung es mich zunehmend kostete, so zu schreiben, als veränderte ich mich nicht. Ein paar Jahre später hatte ich eine meiner Krisen, ich war erschöpft, verzweifelt, am Ende. Und sollte einen Auftrag abgeben. Eine Buchbesprechung für den Tagesanzeiger, ich glaube, Herr Isenschmid war damals Kulturchef. Ich sollte ein Buch über Alice Schwarzer besprechen und wusste genau, warum man ausgerechnet mir den Auftrag gegeben hatte und was man von mir erwartete. „Schreib noch mal genau so!“ Aber ich konnte es nicht. Ich hatte die Kraft nicht mehr, von einer Pfütze in die nächste zu springen, schräge Bilder aufspritzen zu lassen, provokative Formulierungen wie schmutziges Wasser zu versprühen. Das Äusserste, wozu ich in der Lage war, war das Buch zu lesen und meine Gedanken dazu aufzuschreiben, Satz für Satz. Ganz einfach, ohne Schnörkel. Um bei dem Bild zu bleiben: statt von Pfütze zu Pfütze zu hüpfen, kroch ich auf allen Vieren ein kurzes Stück Weg entlang, langsam genug, um jeden Stein wahrzunehmen. Pünktlich gab ich den Text ab. Ich war mir ganz sicher, dass das mein letzter Auftrag gewesen war. Statt dessen rief Herr Isenschmid oder wer immer es war an und sagte: „Frau Moser, ich hatte immer den Verdacht, dass Sie viel klüger sind als Sie wirken, und mit diesem Text haben Sie es bewiesen.“

Seither weiss ich: Das einzige Stilmittel, das nie zur Masche wird, ist das genaue, das ehrliche, das schonungslose Aufschreiben von dem, was da ist. An Gedanken, Bildern, Formulierungen. Denn das, was da ist, verändert sich in jedem Moment. Und es ist immer wahr. images-1

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7 Kommentare

Kommentare

  1. Charlie Lyne meint

    „Aufschreiben von dem, was da ist.“
    Ich glaube, einen derart praezisen, effektiven, handlungsorientierten Rat, um das Schreiben wieder an den Zuegel zu bekommen, erhaelt man selten.
    Das war einmal das Schoene am Schreiben. Das Einfachste und das Schwerste: Etwas anschauen, einen Wortfilm in die Kamera im Kopf einlegen und ein Wortfoto machen, dabei den Fokus so scharfstellen wie nur irgend moeglich. Keine Special Effects, kein verwaessernder Weichzeichner, kein Datum und erst recht kein Glueckwunsch in der linken unteren Ecke. Nur Vertrauen ins eigene Motiv. Und in die Faehigkeit,die Haende still genug fuers Bild zu halten.
    Vielen Dank fuers Erinnern!

    Herzliche Gruesse von
    Charlie
    (eine, die sich des Oefteren an der eigenen Masche den Magen verdirbt.)

  2. Regula Horlacher meint

    Am Sonntag hat mich ein Bekannter gefragt, ob meine Erfahrungen, die ich bei meiner Arbeit im Altersheim gemacht habe, in meinen neuen Roman einfliessen würden. Das ist eine sehr spannende Frage und fast so schwer zu beantworten, wie jene nach dem Unterschied von Roman und autobiografischem Text. Ich schreibe auch einen „autobiografischen“ Text, aber ich befinde mich sozusagen am anderen Ende der Skala, an der anderen Grenze, am anderen Pol: Mein Text ist ein Roman. Eindeutig. Woran ich das merke? Ich weiss es nicht. Ich erfinde nichts ausser den Namen. Jede neu auftauchende Figur bekommt sofort einen eigenen Vor- und Nachnamen. Sonst ist alles, was in diesem Roman vorkommt, erinnert. Wenn sich mir etwas nicht von selbst wieder erschliesst, lasse ich es weg. Das mache ich nicht extra, es widerstrebt mir einfach so sehr, die Ereignisse mit Erfundenem zu ergänzen, dass ich mich damit abfinden musste: Erfinden ist, was diese Geschichte betrifft, offensichtlich nicht angebracht. Dass sich mir die Handlung entzieht, passiert mir auch. Wenn ich mit einem Kapitel beginne, weiss ich noch nicht, welche Lebensbereiche (samt dem dazugehörigen Personal), darin vorkommen werden. Es ist weniger so, dass sich die Handlung neu zusammensetzt, als dass sich in einem Kapitel Ereignisse aus verschiedenen Lebensbereichen gegenübergestellt werden, bis jetzt meistens aus zwei, höchstens drei. Welche Lebensbereiche da jeweils aufeinander treffen, überrascht und verblüfft mich oft sehr. Der „Lebensbereich Altersheim“ gehört nicht dazu, weil ich mir ein bestimmtes Jahr als Obergrenze gesetzt habe, über die hinaus ich nicht erzählen will. Ich will, dass die Hauptfigur Rahel im Roman so denkt, wie sie damals gedacht hat und nicht „weiss, was sie heute weiss“. Soviel Distanz brauche ich. Aber sonst setze ich keine Grenzen, sie ergeben sich – erstaunlicherweise – von selbst, wenn ich genug Geduld aufbringe zu warten, bis mir, nachdem ich einen Abschnitt oder auch ein ganzes Kapitel abgeschlossen habe, jeweils klar wird wo‘s weiter langgeht. Das ist, wie ich festgestellt habe, vor allem auch davon abhängig, wie viel an „realer Vergangenheit“ ich mir im entsprechenden Moment zumuten kann. So ist das Schreiben an diesem Roman gleichzeitig ein langsames kapitelweises Fortschreiten, ausgehend von zeitlichen Merkpunkten im Ablauf jenes Jahres, das die Obergrenze bildet, und eine von Kapitel zu Kapitel grösser werdende Annäherung an ein Kernproblem, von dem ich zwar zu wissen glaube, worum es sich handelt, aber ob es tatsächlich dieses Problem ist, das den Beweggrund für diesen Roman stellt, muss ich offen lassen, bis es sich im entsprechenden Kapitel als richtig erweist – oder auch nicht.

    Und die Altersheim-Erfahrung? Fliesst sie nun in die Geschichte ein oder nicht? Auf materieller Ebene sicher nicht, das habe ich schon erwähnt. Aber möglicherweise als Essenz? Ich habe festgestellt, dass sich die Erfahrungen, die ich in meinem Leben mache, wiederholen. Nicht nur einmal, sondern immer wieder. Natürlich erkennt man das nicht auf den ersten Blick, weil sozusagen jedes Mal ein anderes „Stück“ aufgeführt wird und die „Besetzung“ wechselt, aber im Prinzip ist es immer wieder dasselbe: Die „Essenz“ bleibt sich gleich. Und da die Altersheim-Erfahrung eine entscheidende, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn, existenzielle Erfahrung war, vermag sie vergleichbare frühere Erfahrungen auszuleuchten, und lässt mich so manches verstehen, was ich bis anhin nur schwer nachvollziehen konnte.
    Dieses Wissen, das ich ihr voraus habe, ist es denn auch, das Rahel zur eigenständigen, von meiner Person abgelösten Romanfigur macht, mit der ich nichts mehr gemein habe, als die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt identische Vergangenheit.
    Nein, ich glaube nicht, dass die Altersheim-Erfahrung im dereinst fertigen Buch vorhanden sein wird, auch nicht als Essenz. Ich würde ihre Wirkung eher mit der eines Naturheilmittels vergleichen, einer Bachblüte zum Beispiel, das nichts weiter tut, als die Bereitschaft des Körpers zu erhöhen, irgendeine seiner Funktionen besser zu erfüllen. Dieses Mittel nehme aber ich, die Schriftstellerin, um meine Gehirntätigkeit zu unterstützen, nicht Rahel, die Romanfigur.

  3. Sofasophia meint

    du sprichst ein thema an, das mich auch immer wieder beschäftigt: wie schlagen sich meine persônlichen veränderungen in meiner schreibe nieder?
    früher schielte ich auf blogstatistiken und registrierte an klicks und likes, was gefällt. einen früheren deutschlehrer habe ich als schülerin mit „nach dem mund“-geschriebenen aufsätzen „befriedigt“, wohl wissend, dass es (für mich) ein spiel, ein austesten war. heute kann ich je länger je weniger „spielen“ beim schreiben.
    das wahre sein, die wahre sein – das ist es, das ich will. vor allem mir zuliebe!

    danke für dein blog, das ich immer lese und immer wieder als sehr inspirierend erlebe.
    herzlich denise

    • Milena Moser meint

      @ Denise: Danke dafür! Ja, Spielen im Sinn von etwas Vormachen, etwas Darstellen, das geht für mich auch nicht mehr. Spielen im Sinn von Ausprobieren, Wagen hingegen schon…. Übrigens hat das Leben gerade ein absurdes PS zu diesem letzten Eintrag geschrieben, aber das erzähle ich dann nächste Woche… Alles Gute! Milena

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