Peanuts.

Morgen fangen die Endproben an. Das heisst totale Versenkung. Ich habe Angst davor und ich freue mich darauf. Nicht sieben Bälle auf einmal in der Luft halten zu müssen. Ganz auf eine Sache konzentriert zu sein. Fast wie in einem Retreat. Nicht fast: Es ist ein Retreat. Ein Privileg. Aber, klar, alles andere muss vorher erledigt werden. Rechnungen bezahlt, Kolumnen geschrieben, Manuskripte gelesen, Anfragen beantwortet werden. Das Buch? Sollte es in diesem Blog nicht darum gehen, wie ein Buch entsteht? Das Buch entsteht trotz allem. Vielleicht auch dank allem: Es muss sich durchsetzen, muss lauter rufen als alle anderen Ideen, es muss sich eine Schneise schlagen in diesem Dschungel der Verpflichtungen. Es muss ein starkes Buch sein. Die Vorstellung, man könne sich ein Jahr freischaufeln und seine ganze Zeit, seine ganze Aufmerksamkeit dem Schreiben eines Buches widmen ist ebenso verlockend wie unrealistisch. Manchmal wünsche ich mir das, dann fürchte ich die Vorstellung wieder: Ob ich dann nicht wie Jack Nicholson mit wahnsinnigem Blick tausendmal denselben Satz abtippen würde? Nun gut, die Frage ist müssig.

Mitten in diese Woche platzt eine Medienanfrage. Ich habe die  Petition zum Verleihrecht, die der Verband Autorinnen der Schweiz eingereicht hat, mitunterschrieben. Genauere Informationen hier – kurz zusammengefasst geht es darum, den Schutz des Urheberrechts auf das Verleihrecht auszudehnen, wie es überall sonst in Europa längst der Fall ist. Kein Grund, sich aufzuregen. Eigentlich. Die Interviewfragen zielten aber auf etwas anderes: Geht es den Schweizer Schriftstellern so schlecht, dass sie jetzt auch noch von den Bibliotheken Unterstützung fordern? Verdienen sie nicht genug? Nein, das tun sie nicht. Aber darum geht es nicht. Wir bitten nicht um Unterstützung, wir fordern ein Recht ein. Meine Lieblingsfrage war, warum man überhaupt um solche Minimalbeiträge kämpfe, die fallen doch gar nicht ins Gewicht…? Nun gut, 1500 Franken im Jahr haben oder nicht haben, das fällt durchaus ins Gewicht. Für mich jedenfalls.

Peanuts?

Ein Teil des Beitrages wurde in einer Bibliothek gedreht – vielleicht hoffte man auf einen bildschirmreifen Eklat? Bibliotheken kämpfen (genau wie die Schriftsteller) um jeden Rappen. Budgets werden gekürzt, Stellen eingespart, Bestände gekürzt – und jetzt noch das. Das ist ein ebenso grosser Missstand. Deshalb zielt die Petition ja auch auf eine Erhöhung des Budgets. Ich verstehe nicht, warum Schriftsteller und Bibliotheken gegeneinander ausgespielt werden. Wir sind doch aufeinander angewiesen.

Ich liebe Bibliotheken. Habe meine halbe Jugend in einer verbracht. Und das, obwohl ich in einem Haushalt voller Bücher aufgewachsen bin. Aber nicht die, die ich lesen wollte: Kitschromane, in denen alle paar Seiten die Sonne unterging, und neuseeländische Schafhirten gestresste Städterinnen umarmten. In der Bibliothek traf ich auch meine beste Freundin, die dieseelben Bücher las. Stundenlang tuschelten wir zwischen den Regalen. Besprachen wichtige Lebensfragen wie „Wirst du einen Indianer heiraten oder einen Schafhirten?“ Die Bibliothekarin beobachtete uns mit mütterlicher Nachsicht und erwischte genau den richtigen Moment, in dem uns die Sonnenuntergänge zu langweilen begannen, um uns andere Bücher nahezulegen. Uns weiterzuführen in unseren Lesegewohnheiten. Ganz nebenbei, ganz ohne erhobenen Zeigefinger.

Zurück zu den bevorstehenden Proben. Ich drucke die letzten Korrekturen aus, ich versuche, den richtigen Klebstoff für einen falschen Schnauz zu finden. Meine Nervosität steigt mit jeder Stunde. Ich versuche, sie zu geniessen. Ich denke an Coach Eric, der sagt, das Geheimnis beim Joggen sei, den Kopf zu heben, die Landschaft zu betrachten, zu lächeln. „Easy, no problem!“ Keine Verbissenheit. Gilt auch für die Proben, gilt für das ganze Leben.

Über die neuesten Blogbeiträge informiert bleiben

  • Dieses Feld dient zur Validierung und sollte nicht verändert werden.

Leser-Interaktionen

1 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Horlacher meint

    Als ich drei Jahre alt wurde, zog meine Familie nach Stilli, einem kleinen Dorf an der Aare. Wir bewohnten ein schattiges Häuschen direkt am Steilhang, der das Dorf an dieser Stelle, rund dreihundert Meter vom Fluss entfernt, natürlich begrenzt. In den Zimmern hörte man die Mäuse hinter der Täfelung hin- und herrennen und im angebauten Schopf übten wir Zirkus und Theater. Am Morgen vor den Aufführungen verteilten wir im ganzen Dorf Einladungen, jede einzelne handgemalt, mit Farbstift auf die Rückseite des bedruckten Papiers, das uns der Vater aus dem Geschäft mit nach Hause brachte. Es war eine wunderbare Zeit. Ich hatte eine Freundin mit der ich Puppen spielte und in grossen Käfigfallen die Mäuse fing, die nachts manchmal hinter der Täfelung hervorkamen, um die Schokolade vom Weihnachtsbaum zu holen oder den Katzenteller leerzufressen. Wir hielten sie in einer verlassenen Vogelvoliere gefangen, bis mich einmal eine von ihnen in den Finger biss, worauf ich vor Schreck das Türchen offen und die ganze Meute fliehen liess. Zum Glück war kurz zuvor ein Nachbarjunge eigens von zu Hause ausgerissen, um sich in einer Tierhandlung in Brugg von seinem Taschengeld eine weisse Maus zu kaufen. Es gab einen Polizeieinsatz wegen seines Verschwindens, aber offenbar erst nach dem Mauskauf. Jedenfalls versprach er mir zum Trost Ersatz für die Geflohenen. Weisse Mäuse bekommen oft Junge, wusste er, etwa alle vierzehn Tage. Leider schien aber ausgerechnet sein Exemplar eine Ausnahme zu sein. Nicht ein einziges Junges gebar sie. Wahrscheinlich grämte sich das arme Tier, weil es so einsam war, aber über so etwas machte sich damals niemand Gedanken. Man nahm es nicht so genau mit artgerechter Tierhaltung wie heutzutage. Ausserdem war es meiner Mutter ganz recht, dass der Segen ausblieb. Und ich selber hatte so viel zu tun, dass ich das nicht gehaltene Versprechen bald vergass: Ich musste zur Schule.
    Von der Schule war ich vom ersten Augenblick an begeistert. Meine Lehrerin trug ein goldgelbes Batikkleidchen und schwarze Zöpfe, sie war knapp zwanzig Jahre alt und sah aus wie ein sehr junges Indianermädchen. Ich liebte sie heiss und innig. Wir lasen „Das Eselein Bim“ und Kurzgeschichten von Tolstoi, im Religionsunterricht erzählte sie uns von Edith Piaf und Vincent van Gogh.
    An der hinteren Wand unseres Schulzimmers befand sich die Schulbibliothek. Ein Büchergestell mit drei Brettern. Am Samstag war Ausleihe.
    Mein Vater war Feuerwehrkommandant und Schulpflegepräsident und wohl in letzterer Funktion an jenem Samstagmorgen in unserem Schulzimmer anwesend, als ich mir – viel zu jung dafür – „Heimat am Fluss“ von Gertrud Häusermann auslieh.
    Ich erinnere mich noch heute an den Blickwechsel zwischen der Lehrerin und meinem Vater und an den kurzen Moment meiner Verunsicherung, bis der Vater nickte und sie mich das Buch einpacken liessen.

    Ich war ein argloses, ahnungsloses Zweitklassmädchen, und ganz bestimmt hätte ich auch an jenem Samstagmorgen lieber ein buntbebildertes Kinderbuch mitgenommen, als dieses preisgekrönte Jugendbuch aus den frühen Fünfzigerjahren. Aber wie es mit Bibliotheken so ist: Oft ist das, was man haben möchte, entliehen, und man muss nehmen, was da ist, wenn man nicht mit leeren Händen nach Hause gehen will.
    Vermutlich hätte ich „Heimat am Fluss“ nach ein paar Sätzen weggelegt und mich zum etwa zweihundertsten Mal dem „Schellenursli“ gewidmet, wenn nicht im Blickwechsel zwischen meinem Vater und der Lehrerin auch noch so etwas wie Stolz mitgeschwungen hätte. Man hielt mich für ein begabtes Kind und mein Griff ins Büchergestell schien dies zu bestätigten. Ob ich tatsächlich begabt war, weiss ich nicht. Ich liebte die Lehrerin und wollte lesen lernen. Alle lasen in meiner Familie, auch die Grossmutter und der Grossvater, die Tanten und Onkel. Ich wollte auch lesen können, das war alles.
    Wie auch immer: Ich las dieses Buch. Tapfer kämpfte ich mich von Seite zu Seite. Die Buchstaben wurden zu Wörtern, die Wörter zu Sätzen, die Sätze zu Geschichten. Nicht dass mir diese Geschichten besonders gefallen hätten – heute denke ich, sie trafen einen Nerv, ohne dass ich fähig gewesen wäre mit diesem getroffenen Nerv umzugehen –, aber sie waren bildhaft, deshalb konnte ich sie verstehen. So lernte ich lesen.
    Ich habe diese Geschichten nie wieder vergessen. Es kamen viele Krähen darin vor. Ich kann seither keine Krähe hören, ohne an Gertrud Häusermann zu denken, und weil es da, wo ich wohne sehr viele Krähen gibt, denke ich sehr oft an Gertrud Häusermann. Eigentlich fast ununterbrochen.

An der Diskussion teilnehmen

Hier können Sie Ihren Kommentar schreiben. Ihre Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit * bezeichnet.